Ausgerechnet jetzt, da ich mich endlich im Lockdown zurechtgefunden und darin ganz gut eingelebt hatte, erwacht Paris wieder aus dem Corona-Koma. Seit Mittwoch sind die Terrassen wieder geöffnet, auch die Museen und sogar die Kinos! Und zwar für alle! Niemand braucht einen negativen Test oder einen Impfnachweis. Widersprüchlich ist jetzt eigentlich nur, dass draußen trotzdem noch Maskenpflicht gilt. So ganz habe ich den Sinn dahinter noch nicht durchschaut. Denn sobald man sich auf einer Terrasse niederlässt, darf man sie abnehmen.
Das macht den Angsthasen in mir neugierig und er lockt mich hinaus. Vielleicht hofft er auf beängstigende Situationen, um sich legitim zu fühlen.
Als ich Mittwoch am frühen Abend an den brechend vollen Cafés und Restaurants vorbei spaziere, ist es fast, als hätte es die Pandemie nie gegeben. Pandemie? Ach, Sie meinen wohl „pain de mie“ (Toastbrot)! Tut uns leid, aber gibt’s bei uns nicht!
(Das kann einem aber nur passieren, wenn man Pandemie deutsch ausspricht.)
Mittwoch, also. Festival Stimmung in den Straßen. Es hatte fast den ganzen Tag geschüttet. Trotzdem stürmten die Leute hinaus und besetzten die Bars. Ganz Paris war eine einzige, völlig überlaufene Riesenterrasse. Und zum frühen Abend hin schien sogar die Sonne die Schnauze voll von den zermürbenden Einschränkungen zu haben und traute sich raus.
Paris s’éveille.
Auch gibt es Terrassen, die jedem Wetter trotzen können, weil sie windgeschützt und überdacht sind. In Glas gefasste Kästen, randvoll gefüllt mit Menschen, ein bunter Cocktail an wild gestikulierenden Körpern, Stimmengewirr und Gelächter. Als würde man in ein Aquarium hineinblicken – Sieh‘ nur: das ist Leben. Zugleich drängt sich die Frage auf, ob das überhaupt noch eine Terrasse ist und nicht eher ein geschlossener Raum? Mein Angsthase will da natürlich sofort rein, ein Bierchen trinken. Ich sage nein. Aber grinst, denn er hat trotzdem gewonnen: ob hinein ins Getümmel oder nicht, ich habe Angst.
Zu lange hat Paris unter den harten Corona-Massnahmen gelitten. Jetzt wird wieder gelebt. Etwas zu laut, ein bisschen zu impulsiv, und vielleicht auch etwas zu eng beieinander. Im letzten halben Jahr, eingepfercht auf meist engstem Raum, da hat sich einfach zu viel Energie angestaut, die muss jetzt einfach raus. Viele der Leute, die lachend mit ihren Freunden dasitzen, wirken zugleich auch etwas angespannt. Als wäre das Grinsen eine verzerrte Maske, die nicht mehr richtig sitzt. Verformt von Erschöpfung und blank liegenden Nerven, ausgelaugt vom Lockdown und Lonely-Office, und vielleicht schwingt auch eine gewisse Nervosität mit:
Wie funktioniert das noch, sich unbeschwert unter Menschen aufzuhalten? Darf ich zeigen, wie sehr mich diese Pandemie mitgenommen hat? Kannst Du mich bitte zwicken, damit ich weiß, dass wir hier nicht auf Zoom sind?
Ein alter Mann sitzt allein bei Bier und Erdnüssen. Er hat sich schick gemacht, das feine Haar zurück gegelt, sieht aber leichenblass aus – als wäre er seit Monaten nicht mehr draußen gewesen. Ich stelle mir vor, wie er im Bad vor dem Spiegel steht, ein letztes Mal den Kamm durchs Haar zieht und ihn zufrieden weglegt, um dann seine Einzimmer-Wohnung nun zum ersten Mal wieder zu verlassen. Langsam und vorsichtig, einen Schritt nach dem anderen, bis er seine alte Stammkneipe erreicht. Es ist als hätte er mir die Scheuklappen abgenommen, mit einem Mal überkommt mich eine tiefe Traurigkeit. Die Einsamkeit der letzten Monate, dieses Halbleben, ein Pseudo-Dasein, in dem jeder Tag dem nächsten glich, ohne zu wissen, wann es denn endlich vorbei sein würde. Ist es jetzt vorbei? Wirklich vorbei?
Letztes Jahr um dieselbe Zeit waren auch schon alle Restaurants und Geschäfte wieder geöffnet. Und dann erinnert mich mein Angsthase an den Herbst, die zweite Welle, ein weiterer Lockdown. Ich glaube, letzten Mai war ich unbeschwerter. Dieses Jahr bin ich eher skeptisch. Vielleicht aber auch einfach schon zu „Lockdown-geschädigt“, um einfach so tun zu können, als wäre alles wieder beim Alten. Ich kann mir momentan auch gar nicht vorstellen, dass es jemals wieder wie früher sein wird. Dass ich völlig unbeschwert wieder auf ein Konzert oder ins Kino gehen, reisen, in Restaurants sitzen, Freunde umarmen, mich verlieben, jemanden küssen kann – ich kann mir gerade nicht vorstellen, dass ich all das wieder tun können werde, ohne dass eine gewisse Angst oder Zweifel mitschwingen. Als wäre meine frühere Unbeschwertheit in dieser Hinsicht futsch.
Obwohl ich mich freue Menschen zu sehen, die nun dem kalten Wetter zum Trotz bei Weißwein beisammen sitzen und die Pariser Straßen erneut mit Leben füllen.
Neulich überkam mich beim Spazierengehen das Bedürfnis einfach jemanden zu umarmen, egal wen, Hauptsache ein wenig Wärme, ein wenig menschliche Nähe. Ich musste mich schwer zurückhalten. Jetzt ist die Versuchung groß, mich einfach an einen der Tische dazu zu setzen, die Maske abzunehmen und „Champagner!“ zu rufen. Aber ich traue mich nicht. Noch nicht. Ich bin aufgeregt. Es fällt mir schwer, von heute auf morgen so zu tun, als wäre alles wieder harmlos und das Virus Vergangenheit. Zumal das eine Lüge wäre. Das, was sich mit der Wiedereröffnung der Gastronomie und Geschäfte ändert, ist eigentlich ja nur die Einstellung, die wir zum Virus haben. „Lernen, damit zu leben“, so lautet ja Präsident Macrons Motto. An sich finde ich es ein gutes Motto. Ich glaube bloß, dass meine Art damit zu leben, eine andere ist, als die, die Monsieur Macron, unserem Start-Up Präsidenten, vorschwebt. Ich stelle ihn mir in letzter Zeit ja gerne vor, wie er mit seinen Freunden in schnellen Limousinen durch Paris flitzt, von einem Cocktail zum nächsten Event. Macron tritt überall auf wie John Travolta in Saturday Nightlife, aber zum Sound von „Harder, Better, Faster, Stronger“, und alle um ihn herum sind schön, jung und erfolgreich. Gern wäre ich „One (More) Time“ bei einem solchen Event dabei, sofern es sie tatsächlich nicht nur in meiner Vorstellung gibt. Aber vorher muss ich geimpft sein.
Mit dem Virus leben.
Emmanuel Macron
Ich weiß nicht, ob ich mich deshalb gleich kopfüber in die Menschenmenge des nächstbesten Cafés stürzen muss. Zwar spüre ich einen Druck, als würde ganz Paris rufen: „Du musst jetzt auf die Terrasse! Damit Du dazu gehörst! Und, damit Du später sagen kannst: Weißt Du noch, damals, als Pandemie war, am ersten Tag als die Terrassen wieder geöffnet haben? Was für eine Party!“
Nun, ich habe die Party abgesagt. Abgesehen davon, dass ich bei Verabredungen sowieso notorisch immer spät dran bin, brauche ich für die Paris-Party noch etwas Zeit. Ebenso wie ich immer spät dran bin, bin ich auch ein Angsthase. Vielleicht bin ich der gestresste Hase aus Alice in Wunderland? Trotz meiner jüngsten Versuche mit Meditation dagegen vorzugehen, ändert sich daran wenig. Nachts häufen sich in letzter Zeit wieder die Panikmomente, in denen ich zu ersticken glaube. Das war vor Corona nicht so. Vielleicht aber wird die bald bevorstehende Impfung helfen. Bam! Ich „pfizere“ meinen gestressten inneren Angsthasen einfach weg.
Doch bevor es soweit ist, lockt mich der Angsthase in die Schächte der Pariser Metro, um zu meiner Freundin Marie zu fahren.
Ich frage ihn: „Moment, mal – warum fahre ich denn nicht lieber mit dem Fahrrad? Die Ansteckungsgefahr in der Metro ist nüchtern betrachtet sicher drei Mal höher ist als in jedem Pariser Café!“
Sein Näschen zuckt plötzlich nervös, er reißt erstaunt die Augen auf und legt die Ohren an, als auch schon die volle U-Bahn einfährt. Ohne zu antworten, steigt er prompt ein. Wie es scheint, sucht er den Kick in der Angst, nach dem Motto: No risk, no fun. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass der Hase gewissenhaft die Ausgangssperre um 21 Uhr ignoriert, und ich mich erst gegen 23 Uhr auf den Heimweg mache.
Bevor er mich in die dunkle Nacht hinausziehen kann, wo ich bereits große Gefahren befürchte, weil bereits alle Bürgersteige hochgeklappt sind, frage ich Marie, ob ich sie zum Abschied umarmen darf.
Sie wirkt leicht überrascht.
Wir bewegen uns aufeinander zu wie Michelin-Männchen, so unbeholfen, als hätten wir gerade erst zu gehen gelernt, und umarmen uns schließlich in etwa so, als würde zwischen uns ein dicker Medizinball schweben – oder Maries fetter Kater Mitch. Aber der hängt nicht zwischen uns, sondern hockt auf der Fensterbank und blickt sehnsüchtig hinaus – auch er ein Lockdown-Geschädigter. Aber das ist eine andere Geschichte.
Anschließend rückt Marie die Brille auf ihrer Nase zurecht und versucht sich zu erinnern, wann sie zuletzt jemanden umarmt hat. Auch ich überlege, wie lange es für mich her war. Aber weder ihr noch mir – es will uns einfach nicht einfallen.
Jetzt muss ich los. Keine Zeit, zu spät! Der Hase lockt schon wieder: wir sind gleich auf einer Terrasse verabredet!

Motto der Woche: No risk, no fun.
Song der Woche: “Harder, Better, Faster, Stronger”