Was frau darf

Um Himmels Willen! Warum tanze ich im Badeanzug unter der Dusche??

Ein Bekannter reagierte entsetzt, als er mich neulich in meiner Story auf Facebook im Badeanzug sah. Genau genommen ist er ein Ex-Geliebter und ebenfalls Autor, noch dazu eigentlich recht erfolgreich, aber scheinbar ist ihm langweilig. Er verstand nicht, wie ich als Autorin mich öffentlich in einem solchen Outfit präsentieren könne und behauptete, dass Verlage und andere potentielle Verhandlungspartner*innen mich nun nicht mehr ernst nehmen würden, weil sie mich und meine Arbeit fortan nur noch mit meinen Brüsten assoziieren würden.

Hm.

1. Ich mag meine Brüste. Sie gehören zu den Teilen meines Körpers, die ich richtig gelungen finde. Weshalb also sollte ich sie nicht auch mal zur Geltung bringen?

2. Vielleicht habe ich mir bei der ganzen Sache ja etwas gedacht. 

3. Was hat mein Äußeres eigentlich mit meinen Texten zu tun? Wird die Qualität meiner Bücher tatsächlich danach beurteilt, wie viel Dekolleté ich öffentlich zeige? Und würde man umgekehrt meinen Werken tiefere Bedeutung beimessen, wenn ich mich künftig nur noch ungeschminkt und im schwarzen Rollkragenpullover vor einem Bücherregal fotografieren ließe?

Ja. Es spielt eine Rolle. Obwohl ich daran glauben möchte, dass ein Werk auch für sich allein existieren und aus eigener Kraft strahlen kann, ganz gleich, wer es erzeugt hat. Aber sogar eine Elena Ferrante, die bewusst anonym bleibt, beeinflusst damit erst recht oder trotzdem wie ihre Bücher wahrgenommen werden, weil das Mysteriöse um ihre eigene Person auf ihre Romane abfärbt. Auch finde ich, dass Hemingway zweifellos ein großartiger Schriftsteller war, aber es läßt sich durchaus darüber streiten, ob er zu ebenso großem Ruhm gelangt wäre, wenn er nicht zudem ein so heißer Feger gewesen wäre. Und die wunderbare Dolly Parton donnert sich absichtlich auf, um überhaupt erst einmal die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ist diese gegeben, sagt Parton, kann sie den Leuten zeigen, was hinter der Perücke und den XXL-Brüsten steckt, und worum es ihr eigentlich geht: Songs mit Herz und Köpfchen nämlich. Vielleicht wäre Michel Houellebecq’s Erfolg der gleiche, wenn er weniger fertig aussähe und kein Alkoholproblem hätte, aber sein Auftreten passt eben auch zu der kaputten Welt, die er in seinen Büchern beschreibt. 

Ein Werk ist immer mit der Person verbunden, die es erschaffen hat, schließlich ist es aus ihr heraus entstanden.  Von außen Betrachtende werden Werk und Schöpfer*in immer miteinander assoziieren.  Und es liegt in der Hand des Kunstschaffenden, welches Image sie/er nach außen hin pflegen möchte.  Rollkragenpullover, Badeanzug oder Anonymität?

Vielleicht alles. Wer sagt, dass man sich für immer auf eine Sache festlegen muss?

Madonna hat sich tausend Mal neu erfunden. Vielleicht trage ich morgen also zur Abwechslung mal den schwarzen Rollkragenpullover. Heute jedoch frage ich mich: Was passt wohl am Besten zu meinem neuesten Roman „Ich traf Gott und sie heißt Miranda“?

Es mag meinen vor Besorgnis erschütterten Bekannten überraschen, aber ich habe mich nicht nur bewusst für den aprikosefarbenen Badeanzug entschieden, sondern in dem knappen Teil tatsächlich auch eine Botschaft verpackt. 

Frau und unzensiert

Seit meiner Kindheit wurde mir von verschiedenen Seiten eingebläut, was sich für ein Mädchen, und später dann für eine Frau, gehört und was nicht. Welche Frau hat sich in ihrem Leben nicht schon damit auseinandergesetzt, wie sie sich kleiden sollte, um unterwegs nicht blöd angesprochen oder gar als Schlampe beschimpft zu werden? Was bedeutet „Schlampe“ überhaupt? Warum gibt es dieses Wort heute noch? 

In den letzten Jahren ist viel passiert und 2021 sollte es eigentlich kein Thema mehr sein, aber ich bin mir nicht ganz sicher: wie viel Freizügigkeit darf sich eine Frau wirklich erlauben? Könnte eine Frau heutzutage etwa offen sagen mit wie vielen Menschen sie in ihrem Leben geschlafen hat, ohne dafür verurteilt zu werden? 

Schwierig. Scheinbar kann sie sich ja nicht einmal in einem Badeanzug zeigen, ohne irgendwo anzuecken.

Vor ein paar Jahren hatte ich einmal mein Glück auf Tinder versucht und den Fehler gemacht, im Profil anzugeben, dass ich keine feste Beziehung suchte. Mir schwebte etwas leichtes, unkompliziertes vor, eine „feel good“-Affäre sozusagen. In den Köpfen der Typen hingegen, die mich kontaktierten, schien sich etwas ganz anderes und ziemlich verruchtes abzuspielen. Als ich dann nämlich den Anfängerfehler machte, nach kurzem, harmlosen Chat meine Handynummer rauszurücken, erhielt ich prompt ungefragt mehrere Großaufnahmen des männlichen Geschlechtsteils, sowohl in bewegten Bildern als auch Stilleben, und stets, wie es schien, in „Höchstform“. Ein Penis rief sogar per Live-Video an, und ich weiß nicht, wie er das fertigbrachte, aber sein Live-Stream lief und ich sah ihn in voller Action, obwohl ich NICHT dranging. Ich musste den Anruf wegdrücken, was allerdings einen Moment dauerte, weil ich so verblüfft war, dass solche Anrufe überhaupt möglich sind, und ich mich zudem regelrecht überwinden musste, das Display meines armen Handys überhaupt anzufassen.

Nicht auszudenken, was wohl passiert wäre, wenn ich in meinem Tinder-Profil zudem angegeben hätte: „Ich finde meine Brüste toll!

Mittlerweile weiß ich, dass viele Freundinnen ähnliches erlebt haben, und dafür mussten sie noch nicht einmal auf Dating-Apps gehen. Die unerwünschten Bilder flattern einfach in ihre Posteingänge auf diversen sozialen Netzwerken herein. Nicht etwa, weil meine Freundinnen verkündet hätten, dass sie nach einer Affäre suchten, oder sich besonders sexy gezeigt hätten, nein, es reicht scheinbar schon einfach nur eine Frau zu sein. 

Für mich waren solche krassen Fotos damals eine Neuheit. Ich schwankte zwischen Ekel und Faszination darüber, dass es tatsächlich noch Neandertaler gibt. Auch als ich vorsichtig wurde und meine Nummer nicht mehr hergab, arteten die Chats trotzdem schnell in derbste, schlecht geschriebene Monologe über die Sex-Fantasien des jeweiligen Kerls aus, die sich bestenfalls vielleicht als Drehbuchvorlage für einen Hardcore Porno geeignet hätten. Von meiner Vorstellung einer leichten Affäre mit respektvollem Umgang war all das jedenfalls Lichtjahre entfernt. 

Mir wurde klar, dass ich als Frau scheinbar nicht bedenkenlos sagen konnte, dass ich nur an einer Affäre interessiert wäre, weil die Männer keine Nuancen sahen, sondern schwarz-weiß dachten: War ich nicht das heilige Mauerblümchen, das sich ziert und nach der großen Liebe suchte, so musste ich in ihren Augen unweigerlich die verruchte, sexgeile „Bitch“ sein. Sie sahen nicht, dass es dazwischen jede Menge Nuancen gibt – zumindest gilt das für die Kerle, mit denen ich im Internet kommuniziert hatte. Natürlich ist das nicht zu verallgemeinern und auch nicht auf die echte Welt zu übertragen, in der es in der Regel zwischen Mann und Frau in einer Affäre eher respektvoll zugeht. Trotzdem frage ich mich: Vielleicht kann eine Frau ihre Sexualität nur scheinbar frei ausleben – nämlich nur, insofern sie der männlichen Fantasie entspricht?  

Meine Romanheldin Miranda hält sich mit solchen Fragen nicht mehr auf. Sie ist längst weiter. Zwar liebt sie bedingungslos, ist verwundbar und sicher nicht perfekt, aber sie tut, was sie will, ist komplexbefreit, und steht voll und ganz zu sich selbst. Ich glaube, Miranda ist die Frau, die ich gerne wäre, und doch bin ich aber oft noch wie die etwas steife und schüchterne Genforscherin Maike, die eigentliche Hauptfigur meines Romans. 

Als mein Ex-Geliebter sich über meine Badeanzug-Story entsetzte, etwa, war ich ganz Maike und habe den Clip sofort gelöscht. Zwar war es nur die Ankündigung für die Lesung, aber trotzdem: warum habe ich mich von ihm abschrecken lassen? Das hat mich einige Tage beschäftigt, bis mir klarwurde, dass sowohl seine Reaktion als auch meine akute Gegenreaktion im Grunde nur bestätigten, woran mir bei meiner „mirandaesken“ Inszenierung überhaupt – und nicht zuletzt auch mit meinem Roman – gelegen war. Daraufhin veröffentlichte ich die Lesung erst recht. Und im Gegensatz zu dem kleinkarierten Ex, reagierten Frauen begeistert. Sie verstanden sofort und ganz genau, worum es hier ging.   

Seit Jahren beschäftigt mich: Was macht eine Frau aus? Welche Freiheiten habe ich als Frau wirklich?

Warum hatte ich in meiner Kindheit das Gefühl, dass Jungs mehr anstellen dürfen und wollte daher lange Zeit lieber ein Junge sein?

An der Schauspielschule habe ich immer Männerrollen favorisiert. In „Die Katze auf dem heißen Blechdach“ interessierte mich die Maggie kein Stück. Den Brick wollte ich spielen.

Auch in meinen bisherigen Büchern entschied ich mich bewusst dafür, Männer zu meinen Romanhelden zu machen. Weil die einfach mehr Freiheiten hatten, als eine Heldin sich je hätte erlauben dürfen. Aus ähnlichen Gründen entwarf die Autorin Virginie Despentes ihren „Vernon Subutex“ als männliche Figur. In einem Interview erklärte sie, dass Vernons Handlungen anders beurteilt worden wären, wenn er eine Frau gewesen wäre. Etwa, wenn er mit Bekannten schläft, bei denen er sporadisch übernachtet: da er ein Mann ist, bleibt dies laut Virginie Despentes ein Detail. Wäre Vernon jedoch eine Frau, dann wäre ein solches Verhalten sofort zu einem zentralen Thema des Buches geworden. Despentes hätte es erklären müssen, was wiederum vom eigentlichen Thema abgelenkt hätte, um das es ihr in „Vernon Subutex“ ging.

Vor gar nicht allzu langer Zeit war es in der Buchbranche nahezu unmöglich anders über Frauen zu schreiben als in dem zuckersüßen „Chick Lit“ Genre. Erst die Frauenbewegungen der vergangenen Jahre und #MeToo haben neue Türen geöffnet.

Bis dahin wäre ein Roman wie „Ich traf Gott und sie heißt Miranda“ nicht möglich gewesen.

Trotzdem gibt es auch heute noch immer eine gewisse Diskrepanz zwischen dem, was eine Frau theoretisch alles tun und sein darf, und inwiefern es dann tatsächlich in der Realität umsetzbar ist.

Dass ich dieses Buch geschrieben habe, kommt also nicht von ungefähr, und wenn ich heute im Badeanzug daraus vorlese, dann hat auch das seine Gründe.

Immer wieder fällt mir auf, dass wir uns oft selbst einschränken oder, schlimmer noch, von anderen bremsen lassen (von einem Bekannten, etwa), weil dieses oder jenes eventuell nicht der Norm entspricht. Wie aber soll ich mich je vollkommen fühlen, wenn ich gewisse Seiten meiner Persönlichkeit ausblende oder unterdrücke? Wie ganz Frau sein können, wenn ich ständig zusehen muss, dass ich meine Weiblichkeit zensiere? Und alles bloß, weil es ungewöhnlich wäre oder sich gar jemand daran stören könnte? Wie sollte bei einem solchen Denken dann je Fortschritt möglich sein? 

Gerade als Frau, aber auch ganz allgemein als Mensch, möchte ich mich von diesen Zwängen befreien und von dem verkopften „Tu dies nicht, tu das nicht“ abwenden.

Der Sprung aus der Dusche hinaus in die Öffentlichkeit war eine Herausforderung für mich – ebenso wie auch jeder Text, den ich veröffentliche, für mich ein Sprung ins Ungewisse ist.  

Die Badeanzug-Lesung ist die Inszenierung meiner Romanheldin Miranda, einer freien, selbstbewussten Frau, die voll zu ihrer Weiblichkeit steht. Dazu gehörte für mich auch, etwas auszuprobieren und mich zu trauen, meine Kreativität voll auszuschöpfen.

Weshalb auch sollte ich mich darin einschränken? Ob ich nun spiele oder schreibe, vorlese oder tanze, es läuft alles auf eines hinaus: ich erzähle Geschichten. Mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln.  

„If I could get their attention long enough, I felt they would see beneath the boobs and find the heart, and that they would see beneath the wig and find the brains. I think one big part of whatever appeal I possess is the fact that I look totally one way and that I am totally another. I look artificial, but I’m not.“

Dolly Parton

Die Reaktion meines Ex-Geliebten zeigt eigentlich nur, wie sehr wir noch kämpfen müssen, bis wir Frauen uns endlich wirklich frei und unbefangen geben können, ohne dass gleich jemand anklopft und dringlichst dazu auffordert, den (Dusch-)Vorhang wieder zuzuziehen (oder im anderen Extrem unerwünschte Fotos schickt). 

Wenn ich damit jedenfalls auch nur einer einzigen Person Mut machen kann, in all ihren Facetten zu schillern und uneingeschränkt sie selbst zu sein, dann ist mir das jede Kritik von anderen Leuten wert. 

Falls Ihr jetzt neugierig auf die kleine Lesung seid, dann schaut sie Euch gerne auf meinem Instagram-Profil an, oder, besser noch: Lest Ich traf Gott und sie heißt Miranda !  

Wer ist Miranda?

Nach zwei Jahren harter Arbeit ist im April 2021 endlich mein neuestes Buch im Rowohlt Verlag erschienen!

Gott – eine Frau wie Du und ich …

«Ich traf Gott und sie heißt Miranda» ist mein dritter Roman, aber der erste in dem Frauen die Hauptfiguren sind.

Wer Samantha aus SEX & THE CITY mochte, wird Gott lieben!

Im Leben der ehrgeizigen Genforscherin Maike läuft beruflich wie privat alles schief. Bis sie Gott begegnet oder besser: Miranda – denn Gott ist eine Frau. Aber leider ist SIE auch ein ziemliches Wrack, vom ewigen Leben gezeichnet und von Liebeskummer verletzt. Schuld daran ist ein gewisser Luzifer. Doch damit soll nun Schluss sein, wie auch mit dem Unfug, den all die sogenannten „Herren der Schöpfung“ sonst noch anstellen. Gott bestellt bei Maike einen Gencocktail für eine weibliche Messias (mit Jesus hat das ja nicht so gut geklappt). Und plötzlich muss die rationale Maike sich mit höchst irrationalen Problemen befassen. Vor allem muss sie Gott davon überzeugen, dass eine Welt ohne Männer auch keine Lösung ist – schon gar nicht ohne Jonas, den einfühlsamen Saxophonisten mit dem Mango-Eis-Fleck auf dem Hemd…

Ein Roman über moderne Frauen und ihren Umgang mit Liebe, Sex, Karriere und Freiheit. Vor allem aber geht es um die Freundschaft zwischen zwei Frauen, die trotz ihrer Unterschiede zusammenhalten.

Miranda und Maike sind starke Frauenfiguren: unabhängig, eigenwillig und freiheitsliebend – und doch könnten sie einander nicht gegensätzlicher sein. 

Die Welt ist voll von Frauen wie GOTT und Maike.

Für Fans von Serien wie SEX & THE CITY, Filmen wie BRIDESMAIDS (Brautalarm), BRIDGET JONES, GHOSTBUSTERS, und Romanen wie GOTT BEWAHRE (John Niven). 

In den Startlöchern

Coucou !

Hier gibt’s ab sofort regelmäßig News zu meinen Romanen und meinem Leben als Autorin in Paris.

Im „Paris-Tagebuch“ berichte darüber, wie ich die Stadt der Liebe erlebe, was mich hier im Alltag beschäftigt, sei es Lustiges oder auch Dinge, die mir Sorgen machen.

Und natürlich werde ich auch immer wieder etwas zum Thema Schreiben posten.

Folgt mir auch gern auf Instagram oder Facebook, wo ich täglich neue Storys poste.

Außerdem findet Ihr unter „Corontine“ meinen Facebook-Blog, den ich 2020 zum ersten Lockdown in Paris gestartet hatte.

Ich freue mich sehr über Eure Kommentare zu meinen Texten und Büchern!

Liebe Grüße!

Safia

Daddy’s Girl

Seit 14 Jahren lebe ich nun in Paris. Und bis vor kurzem dachte ich genau zu wissen, warum. Doch vor ein paar Tagen spülten meine Gedanken völlig unerwartet eine ferne Erinnerung aus meiner Jugend an die Oberfläche zurück. Es war einer dieser seltenen Momente, in denen alle Filter wegrutschen und man plötzlich die rohe Wahrheit erkennt: mein Vater auf dem belebten Boulevard Haussmann vor den Galeries Lafayette, um uns herum Trubel und lärmender Verkehr, ich muss 12 Jahre alt gewesen sein, es war meine erste Parisreise und ich folgte meinem Vater, als er plötzlich anhielt und zur gegenüberliegenden Seite des Boulevards hinüberblickte, wo eine junge Frau und deren Freundin aus der Menge hervorstachen, lachend und beschwingt auf hohen Absätzen an den schicken Schaufenstern entlang liefen, so hübsch, elegant und voller Lebensfreude. Ich fühlte mich wie in einem Film, der erst beschleunigt und dann in Zeitlupe auf diese eine Frau zoomte, ihr unfassbar schönes Lächeln, die langen Beine, der freche Kurzhaarschnitt, die schicke Sonnenbrille und die sommerliche, runde Korbtasche über ihrer Schulter – ich wollte auch so sein, aber es erschien mir als komplexbeladene und mittellose Teenagerin unerreichbar. Und dann sah sie plötzlich zu uns. Erschrocken und peinlich berührt davon, dass ich sie so angestarrt hatte, drehte ich mich hilfesuchend zu meinem Vater, der mich jedoch gar nicht wahrnahm. Er sah zu ihr. 

Das war der Moment. In jener kurzen Erinnerung zeigte sich mir plötzlich der wahre Grund, weshalb ich nach Paris gezogen war. Nicht meine französischen Wurzeln hatten mich hierher geführt. In Wirklichkeit suche ich seit nunmehr 14 Jahren in der Metropole nach diesem Blick, dem Blick meines Vaters, den er dieser jungen Frau geschenkt hatte. Mir sollte er gelten. Mich sollte mein Vater bewundern. Wie früher. Als ich noch seine Prinzessin und er mein Held war – bevor er zu einem strenggläubigen Muslim wurde. 

Mein Vater war immer schon vieles: überzeugter Marxist und Maoist, leidenschaftlicher Langzeitstudent und vehementer Verfechter des Peace and Love. Aber Religion gehörte definitiv nicht zu seinen Interessen, als er in den 60er Jahren fürs Studium aus dem fernen Irak nach Deutschland zog. Wie alt genau er damals war, weiß niemand, nicht einmal er selbst. Wir wissen nur so viel: im Jahr seiner Geburt war die Ernte wohl recht gut ausgefallen, und dass es an seinem großen Tag in Strömen regnete, doch just in dem Moment als er zur Welt kam, brach die Sonne zwischen den grauen Wolken hervor und strahlte ihm ins Gesicht. Die deutschen Behörden schlussfolgerten daraus, dass dies unumstritten an einem Apriltag gewesen sein musste. Anno…? Mein Vater lächelte zufrieden, wählte sein Wunschdatum aus, und stürzte sich dann kopfüber in die damals aufblühende Hippie-Ära, verliebte sich augenblicklich in das pulsierende Leben des abenteuerlichen Deutschlands – alles neu, fremd und so anders als im Irak -, und vor allem in viele, viele Frauen. Bei der erstbesten Gelegenheit kaufte er sich ein knallrotes Cabriolet und flitzte mit quietschenden Reifen nach Hamburg, nach München, nach Frankfurt und Göttingen, an die Nordsee und bis ins Schwabenländle, um die Fülle deutscher Kultur unter ihren diversen Aspekten und in all ihren Nuancen genauestens zu erkunden… Natürlich geschah das BEVOR er meiner Mutter begegnete. Aber er erzählte mir gerne von seinen wilden Studentenzeiten, in denen er mehrere Liebschaften zugleich und so ziemlich alle Drogen ausprobiert hatte, die der damalige Markt zu bieten hatte. Wohl dosiert versteht sich, und ganz einem väterlichen Verantwortungsbewusstsein entsprechend, ließ er genauere Details zwar aus, aber im Gegensatz zu den anderen Erwachsenen in meiner Jugend, sprach er offen zu mir und gewährte Einblicke in die freie Welt jenseits der magischen 18, was mich und meine Freundinnen als Teenagerinnen natürlich brennend interessierte. 

Ich war seine beste Zuhörerin und er mein bester Freund. Bis er dem Islam verfiel. 

Es mag sonderbar klingen, dass ich ausgerechnet nach dem Blick meines Vaters suche, den er einer fremden Frau zuwarf, weil er sie eindeutig attraktiv fand. Doch als er ein paar Jahre danach zu einem Muslim wurde, der unsere Familie zerstörte, war ich viel jünger als die Frau damals in Paris. In meiner verworrenen Logik wurde dieser Blick seines früheren Ichs zu dem Blick, den ich mir von ihm an mein zukünftiges Ich wünschte. Ich hoffte, wenn ich erst das Alter dieser Frau erreichte und dann so wäre wie sie, wenn ich das schaffte, dass dann auch er wieder werden würde wie damals. 

„Il fil öcküll moos.“ Der Elefant ißt Bananen. Das ist so ziemlich der einzige Satz, den ich noch auf irakisch kann. Seit meinem vierzehnten Lebensjahr will mir ansonsten kein weiteres Wort mehr einfallen, bis auf eben diesen einen Satz. Vielleicht, weil die damit verknüpfte Erinnerung eine der wenigen guten ist, die ich noch mit dieser Sprache verbinde. Ich muss drei Jahre alt gewesen sein, als ich meinem Vater von dem Elefanten und den Bananen erzählte, und zwar bis er darüber lächelnd einschlief. Eigentlich hätte es umgekehrt sein sollen, zumal mein Vater ein begnadeter Geschichtenerzähler war und auch heute noch ist. Bloß haben die Märchen, die er heute erzählt, leider nichts mehr mit den wunderbaren Welten aus tausend und einer Nacht zu tun. Heute verbreitet er lieber Verschwörungstheorien und predigt über den Jüngsten Tag. 

In meiner Kindheit war mein Vater oft wochenlang verreist. Er fuhr zahlreiche Autos auf der irren Strecke von Saarbrücken bis ins ferne Bagdad, um sie dort zu verkaufen. Wenn er zurückkam brachte er jedes Mal Geschenke mit: orientalischen Goldschmuck, sonderbare Süßigkeiten und exotische Früchte. Am besten waren jedoch die Abenteuer, die er von seinen Reisen zu berichten hatte. Einmal hatte er sich in der Wüste verfahren, und einzig sein Feuerzeug rettete ihn. Ein anderes Mal musste er vor dem arabischen Geheimdienst fliehen, weil sie ihn für einen Diamantenschmuggler hielten. Er segelte den Tigris hinab bis nach Basra und den Euphrat wieder hinauf, sah Tote aus den Gräbern Najafs auferstehen und entdeckte in Mossul die kostbarsten antiken Schätze. Oft saß ich stundenlang bei ihm in dem Raucherzimmer, das er sich auf dem Dachboden eingerichtet hatte, um ihm zuzuhören. Hier hing der Charme der allmählich verblassenden 68er-Ära noch in der Luft. An einer der weißen Wände war die riesige schwarze Grafik eines Revolvers gemalt, noch von den Hippies, die vor uns hier gewohnt hatten, wie auch die Fußabdrücke, die sie im Zement des Dachbodens hinterlassen hatten. Es roch nach fernen Reisen, nach Kupfer und Messing, und nach dem Leder alter Autos, die in gleißender Hitze über staubige Straßen und durch die Wüste bretterten, immer dem Locken fremder Klänge und mystischer Tänze hinterjagend. Der dichte Rauch in diesem Zimmer war gefüllt mit den sagenumwobenen Abenteuern meines Vaters. 

Doch ebenso wie ich bis heute rätsele, weshalb unsere Hippie-Vormieter entgegen ihrem pazifistischen Image ausgerechnet einen Revolver an die Wand gemalt hatten, werde ich wohl auch nie begreifen, weshalb mein Vater sich ein paar Jahre später so radikal von seinem früheren Leben abkehren sollte. 

Er war schon immer ein charismatischer Mann gewesen, aber auch eitel. Er stand auf schicke Klamotten und schnelle Autos, studierte Soziologie und Politikwissenschaften, und während der Semesterferien schuftete er in einem Stahlwerk, um sich einen schnittigen Sportwagen leisten zu können. Er war ein Dandy, der gern damit prahlte, dass er oft für Al Pacino gehalten wurde. So gering die Chance auch war, dass der echte Pacino sich tatsächlich mal nach Saarbrücken verirrte, davon wollte mein Vater nichts hören, und noch weniger mochte er es, wenn man ihn mit Dustin Hoffman verwechselte. Schließlich sah der Rainman nicht annähernd so gut aus wie Scarface. 

Aber eigentlich ist mein Vater eher ein Cat Stevens. Beide änderten ihr Leben radikal, indem sie von heute auf morgen Muslime wurden. Im Gegensatz zu Stevens jedoch, der sich bereits 1977 in Yusuf Islam umtaufte, machte mein Vater seine Bekehrung erst in den frühen 90er Jahren durch, parallel zum zweiten Golfkrieg und ausgerechnet dann, als ich mit 14 Jahren mitten in der Pubertät steckte. Das war umso schlimmer, weil er bis dahin sehr bedacht darauf gewesen war, mich als einen Sproß der wilden 70er Jahre zu einer freiheitsliebenden, eigenständigen und unabhängigen Frau zu erziehen, die sich nichts von niemandem bieten lassen sollte. 

Einst war ich sein ganzer Stolz. Plötzlich war ich ihm nichts mehr wert, weil ich eine Frau bin.

Es gibt viele Gründe und mögliche Auslöser, aber keinen Trost. Kurz zuvor war seine Mutter im Irak gestorben. Der Golfkrieg zerstörte seine Geschäftsbeziehungen. Die Trauer, der berufliche Misserfolg, die Arbeitslosigkeit, vielleicht auch die Sehnsucht nach einer Welt, die es so niemals (wieder) geben würde – gute Zutaten für eine Midlife-Krise. Bloß war es keine Krise, sondern eine irreversible Verwandlung. 

Von einem Extrem ins andere. 

Einst vermachte er mir seine umfassende Sammlung an Playboy-Magazinen (von den 60ern bis in die 80er hinein!). Kaum ein Jahr später jagte er mich mit einem Stock durchs Treppenhaus, weil ihm die zerrissenen Jeans, die ich trug, unsittlich erschienen. 

Einst war mein Vater der coole Buddy, der mich verstand und mir alles erlaubte. 

Er war nicht bloß mein Held. Auch meine Freundinnen fanden, dass er der coolste Papa der Welt war. Als wir noch Kinder waren, erzählte er uns nicht nur wunderbar gruselige Märchen aus tausend und einer Nacht, sondern er spielte auch mit uns. Welcher Vater tat das damals schon? Dass es vielleicht daran lag, weil er job- oder eher arbeitslosigkeitsbedingt einfach mehr Zeit hatte als andere Eltern, das war uns Kindern natürlich Schnuppe. Und vielleicht spielte er genau deswegen auch so gern mit uns, weil wir ihn nicht nach seinem beruflichen Status oder Bankkonto beurteilten, und weil er mit uns in eine Parallelwelt abtauchen und somit vor seinen Problemen flüchten konnte. Er enterte unser imaginäres Piratenschiff, reiste mit uns unter stürmischsten Wetterbedingungen bis ans Ende der Welt (in Wirklichkeit die Küche) und suchte mit uns nach verschollenen Schätzen (die von meiner Mutter frisch gebackenen Rosinenschnecken im Ofen). Unsere gesamte Wohnung wurde zum Wunderland. Mittendrin meine arme Mutter, die dem Tohuwabohu fassungslos zusah und fast einen Herzinfarkt erlitt, weil sie um ihre kostbaren Kristallvasen bangte.

Auch als meine Freundinnen und ich den Yellow Brick Road ins Teenager-Alter nahmen, blieb mein Vater ein beliebter Weggefährte. Unterwegs besorgte er sogar einmal einen ausrangierten Spielautomaten. Erst viel später wurde mir klar, dass meine Mutter wenig erfreut darüber gewesen sein musste, als er das Ding voller Stolz heim brachte und in unserer Diele aufstellte. Meine Freundinnen hingegen waren davon mindestens so begeistert wie er. 

Bis er dem Islam verfiel, war mein Vater die erste Bezugsperson für mich. Wenn ich ausgehen wollte, fragte ich immer zuerst ihn. Wenn ich Liebeskummer hatte, tröstete er mich. Wenn ich ein Problem hatte, vermochte er es, mich aufzumuntern. Zwar weiß ich mittlerweile, dass er ein ziemlicher Narzisst ist und bestimmt darauf bedacht war, immer von allen bewundert zu werden. Aber es ändert nichts daran, dass ich eine unvergesslich gute Zeit mit ihm hatte. Er war damals da für mich. Mehr noch: er nahm mich ernst und behandelte mich wie eine erwachsene Person. 

Die Religion hat einen völlig anderen Menschen aus ihm gemacht.  

Lange hielt meine sehr französische Mutter das auch nicht aus. Ihr buntes Make-up, die sexy Miniröcke und der grelle Nagellack waren Schandflecke in der grauen neuen Welt meines Vaters. Es half ihr auch nicht, ihr Entsetzen darüber mit einem Glas Rotwein wegzuspülen. Im Gegenteil, es bescherte ihr bloß blaue Flecken, graublau wie ein plumper Kaftan. Meine Eltern trennten sich als ich 15 war, und es erklärt sich wohl von selbst, dass mein kleiner Bruder und ich bei Maman blieben. Kurze Zeit später heiratete mein Vater eine Muslimin und bekam mit ihr ein Kind. Meine Halbschwester ist jetzt neunzehn Jahre alt. Neulich fragte sie mich scheu unter vier Augen: „Durftest du damals einen Freund haben?“

Als ich 2012 meinen ersten Roman schrieb, muss ich Sehnsucht nach dem Mann gehabt haben, der er früher einmal gewesen war. In AM ENDE IST NOCH LÄNGST NICHT SCHLUSS geht es um vier Alt-68er, die sich in ihrer Jugend geschworen hatten, lieber kollektiv Selbstmord zu begehen als ins Altersheim zu müssen. Ein früherer Freund meines Vaters war gerührt, weil er sich darin wiedererkannte und an seine wilde Zeit erinnert fühlte. Genauso sei es damals gewesen. Mein Vater hingegen verleugnete jegliche Parallelen. Als hätte er sein früheres Leben ausradiert. Überhaupt, so ließ er mich wissen, fand er es nicht gut von mir, so ein Teufelszeug zu schreiben. Doch dann tauchte er wider Erwarten bei meiner Lesung in Saarbrücken auf. Zwar setzte er sich abseits in eine Ecke und machte sich anschließend auch relativ schnell und ohne viele Worte davon. Aber er war da gewesen. 

Eine Freundin, die an dem Abend auch anwesend war, erzählte mir später, dass er während der Lesung mächtig stolz auf mich gewirkt und mir voller Bewunderung zugehört hätte. 

War es das gewesen, wonach ich mich so lange gesehnt hatte? Zu flüchtig war es gewesen. Ich hatte ihn nicht gesehen, den Blick, nach dem ich noch heute in den Straßen von Paris suche. 

Song der Woche: “Message Personnel” (Françoise Hardy)

Paris, eine Terrasse – und ich, der Angsthase, der auf einen Kick aus ist

Ausgerechnet jetzt, da ich mich endlich im Lockdown zurechtgefunden und darin ganz gut eingelebt hatte, erwacht Paris wieder aus dem Corona-Koma. Seit Mittwoch sind die Terrassen wieder geöffnet, auch die Museen und sogar die Kinos! Und zwar für alle! Niemand braucht einen negativen Test oder einen Impfnachweis. Widersprüchlich ist jetzt eigentlich nur, dass draußen trotzdem noch Maskenpflicht gilt. So ganz habe ich den Sinn dahinter noch nicht durchschaut. Denn sobald man sich auf einer Terrasse niederlässt, darf man sie abnehmen. 

Das macht den Angsthasen in mir neugierig und er lockt mich hinaus. Vielleicht hofft er auf beängstigende Situationen, um sich legitim zu fühlen. 

Als ich Mittwoch am frühen Abend an den brechend vollen Cafés und Restaurants vorbei spaziere, ist es fast, als hätte es die Pandemie nie gegeben. Pandemie? Ach, Sie meinen wohl „pain de mie“ (Toastbrot)! Tut uns leid, aber gibt’s bei uns nicht! 

(Das kann einem aber nur passieren, wenn man Pandemie deutsch ausspricht.) 

Mittwoch, also. Festival Stimmung in den Straßen. Es hatte fast den ganzen Tag geschüttet. Trotzdem stürmten die Leute hinaus und besetzten die Bars. Ganz Paris war eine einzige, völlig überlaufene Riesenterrasse. Und zum frühen Abend hin schien sogar die Sonne die Schnauze voll von den zermürbenden Einschränkungen zu haben und traute sich raus.

Paris s’éveille. 

Auch gibt es Terrassen, die jedem Wetter trotzen können, weil sie windgeschützt und überdacht sind. In Glas gefasste Kästen, randvoll gefüllt mit Menschen, ein bunter Cocktail an wild gestikulierenden Körpern, Stimmengewirr und Gelächter. Als würde man in ein Aquarium hineinblicken – Sieh‘ nur: das ist Leben. Zugleich drängt sich die Frage auf, ob das überhaupt noch eine Terrasse ist und nicht eher ein geschlossener Raum? Mein Angsthase will da natürlich sofort rein, ein Bierchen trinken. Ich sage nein. Aber grinst, denn er hat trotzdem gewonnen: ob hinein ins Getümmel oder nicht, ich habe Angst. 

Zu lange hat Paris unter den harten Corona-Massnahmen gelitten. Jetzt wird wieder gelebt. Etwas zu laut, ein bisschen zu impulsiv, und vielleicht auch etwas zu eng beieinander. Im letzten halben Jahr, eingepfercht auf meist engstem Raum, da hat sich einfach zu viel Energie angestaut, die muss jetzt einfach raus. Viele der Leute, die lachend mit ihren Freunden dasitzen, wirken zugleich auch etwas angespannt. Als wäre das Grinsen eine verzerrte Maske, die nicht mehr richtig sitzt. Verformt von Erschöpfung und blank liegenden Nerven, ausgelaugt vom Lockdown und Lonely-Office, und vielleicht schwingt auch eine gewisse Nervosität mit:

Wie funktioniert das noch, sich unbeschwert unter Menschen aufzuhalten? Darf ich zeigen, wie sehr mich diese Pandemie mitgenommen hat?  Kannst Du mich bitte zwicken, damit ich weiß, dass wir hier nicht auf Zoom sind? 

Ein alter Mann sitzt allein bei Bier und Erdnüssen. Er hat sich schick gemacht, das feine Haar zurück gegelt, sieht aber leichenblass aus – als wäre er seit Monaten nicht mehr draußen gewesen. Ich stelle mir vor, wie er im Bad vor dem Spiegel steht, ein letztes Mal den Kamm durchs Haar zieht und ihn zufrieden weglegt, um dann seine Einzimmer-Wohnung nun zum ersten Mal wieder zu verlassen. Langsam und vorsichtig, einen Schritt nach dem anderen, bis er seine alte Stammkneipe erreicht. Es ist als hätte er mir die Scheuklappen abgenommen, mit einem Mal überkommt mich eine tiefe Traurigkeit. Die Einsamkeit der letzten Monate, dieses Halbleben, ein Pseudo-Dasein, in dem jeder Tag dem nächsten glich, ohne zu wissen, wann es denn endlich vorbei sein würde. Ist es jetzt vorbei? Wirklich vorbei? 

Letztes Jahr um dieselbe Zeit waren auch schon alle Restaurants und Geschäfte wieder geöffnet. Und dann erinnert mich mein Angsthase an den Herbst, die zweite Welle, ein weiterer Lockdown. Ich glaube, letzten Mai war ich unbeschwerter. Dieses Jahr bin ich eher skeptisch. Vielleicht aber auch einfach schon zu „Lockdown-geschädigt“, um einfach so tun zu können, als wäre alles wieder beim Alten. Ich kann mir momentan auch gar nicht vorstellen, dass es jemals wieder wie früher sein wird. Dass ich völlig unbeschwert wieder auf ein Konzert oder ins Kino gehen, reisen, in Restaurants sitzen, Freunde umarmen, mich verlieben, jemanden küssen kann – ich kann mir gerade nicht vorstellen, dass ich all das wieder tun können werde, ohne dass eine gewisse Angst oder Zweifel mitschwingen. Als wäre meine frühere Unbeschwertheit in dieser Hinsicht futsch. 

Obwohl ich mich freue Menschen zu sehen, die nun dem kalten Wetter zum Trotz bei Weißwein beisammen sitzen und die Pariser Straßen erneut mit Leben füllen.

Neulich überkam mich beim Spazierengehen das Bedürfnis einfach jemanden zu umarmen, egal wen, Hauptsache ein wenig Wärme, ein wenig menschliche Nähe. Ich musste mich schwer zurückhalten. Jetzt ist die Versuchung groß, mich einfach an einen der Tische dazu zu setzen, die Maske abzunehmen und „Champagner!“ zu rufen. Aber ich traue mich nicht. Noch nicht. Ich bin aufgeregt. Es fällt mir schwer, von heute auf morgen so zu tun, als wäre alles wieder harmlos und das Virus Vergangenheit. Zumal das eine Lüge wäre. Das, was sich mit der Wiedereröffnung der Gastronomie und Geschäfte ändert, ist eigentlich ja nur die Einstellung, die wir zum Virus haben. „Lernen, damit zu leben“, so lautet ja Präsident Macrons Motto. An sich finde ich es ein gutes Motto. Ich glaube bloß, dass meine Art damit zu leben, eine andere ist, als die, die Monsieur Macron, unserem Start-Up Präsidenten, vorschwebt. Ich stelle ihn mir in letzter Zeit ja gerne vor, wie er mit seinen Freunden in schnellen Limousinen durch Paris flitzt, von einem Cocktail zum nächsten Event. Macron tritt überall auf wie John Travolta in Saturday Nightlife, aber zum Sound von „Harder, Better, Faster, Stronger“, und alle um ihn herum sind schön, jung und erfolgreich. Gern wäre ich „One (More) Time“ bei einem solchen Event dabei, sofern es sie tatsächlich nicht nur in meiner Vorstellung gibt. Aber vorher muss ich geimpft sein. 

Mit dem Virus leben. 

Emmanuel Macron

Ich weiß nicht, ob ich mich deshalb gleich kopfüber in die Menschenmenge des nächstbesten Cafés stürzen muss. Zwar spüre ich einen Druck, als würde ganz Paris rufen: „Du musst jetzt auf die Terrasse! Damit Du dazu gehörst! Und, damit Du später sagen kannst: Weißt Du noch, damals, als Pandemie war, am ersten Tag als die Terrassen wieder geöffnet haben? Was für eine Party!“ 

Nun, ich habe die Party abgesagt. Abgesehen davon, dass ich bei Verabredungen sowieso notorisch immer spät dran bin, brauche ich für die Paris-Party noch etwas Zeit. Ebenso wie ich immer spät dran bin, bin ich auch ein Angsthase. Vielleicht bin ich der gestresste Hase aus Alice in Wunderland? Trotz meiner jüngsten Versuche mit Meditation dagegen vorzugehen, ändert sich daran wenig. Nachts häufen sich in letzter Zeit wieder die Panikmomente, in denen ich zu ersticken glaube. Das war vor Corona nicht so. Vielleicht aber wird die bald bevorstehende Impfung helfen. Bam! Ich „pfizere“ meinen gestressten inneren Angsthasen einfach weg. 

Doch bevor es soweit ist, lockt mich der Angsthase in die Schächte der Pariser Metro, um zu meiner Freundin Marie zu fahren.

Ich frage ihn: „Moment, mal – warum fahre ich denn nicht lieber mit dem Fahrrad? Die Ansteckungsgefahr in der Metro ist nüchtern betrachtet sicher drei Mal höher ist als in jedem Pariser Café!“

Sein Näschen zuckt plötzlich nervös, er reißt erstaunt die Augen auf und legt die Ohren an, als auch schon die volle U-Bahn einfährt. Ohne zu antworten, steigt er prompt ein. Wie es scheint, sucht er den Kick in der Angst, nach dem Motto: No risk, no fun. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass der Hase gewissenhaft die Ausgangssperre um 21 Uhr ignoriert, und ich mich erst gegen 23 Uhr auf den Heimweg mache. 

Bevor er mich in die dunkle Nacht hinausziehen kann, wo ich bereits große Gefahren befürchte, weil bereits alle Bürgersteige hochgeklappt sind, frage ich Marie, ob ich sie zum Abschied umarmen darf.

Sie wirkt leicht überrascht.

Wir bewegen uns aufeinander zu wie Michelin-Männchen, so unbeholfen, als hätten wir gerade erst zu gehen gelernt, und umarmen uns schließlich in etwa so, als würde zwischen uns ein dicker Medizinball schweben – oder Maries fetter Kater Mitch. Aber der hängt nicht zwischen uns, sondern hockt auf der Fensterbank und blickt sehnsüchtig hinaus – auch er ein Lockdown-Geschädigter. Aber das ist eine andere Geschichte. 

Anschließend rückt Marie die Brille auf ihrer Nase zurecht und versucht sich zu erinnern, wann sie zuletzt jemanden umarmt hat. Auch ich überlege, wie lange es für mich her war. Aber weder ihr noch mir – es will uns einfach nicht einfallen. 

Jetzt muss ich los. Keine Zeit, zu spät! Der Hase lockt schon wieder: wir sind gleich auf einer Terrasse verabredet! 

Haltet die Ohren steif und schönes Wochenende!

 

Motto der Woche: No risk, no fun. 

Song der Woche: “Harder, Better, Faster, Stronger”

Nachteule oder Early Bird?

Diese Woche startet schlecht. Wie immer eigentlich. Ich finde ja, eine Woche, die montags startet, kann eigentlich nur schlecht beginnen. Ist heute überhaupt Montag?

Ich hatte mir so viel vorgenommen. Einen richtigen Wochenplan hatte ich ausgeheckt und alles auch in Schönschrift festgehalten: um Punkt 8 Uhr wollte ich auf meiner Yogamatte stehen, während parallel schon der Kaffee aufkochte, mein brandneues Mantra für ein erfülltes Leben ins Universum hinausschicken und um 08h30 am Schreibtisch sitzen, um an meinem neuen Roman zu schreiben.

Nun ist es bereits 14 Uhr und nichts von alledem ist geschehen. Statt um 8 Uhr aufzustehen, habe ich auf AUS gedrückt und bis 10h30 weitergeschlafen. Statt Kaffee aufzusetzen habe ich erstmal Facebook und Instagram gecheckt, dann ewig überlegt, was ich anziehe, mich geschminkt und unwichtigen Kleinkram aufgeräumt. Statt Yoga habe ich ein Kippchen geraucht und dabei versucht, mich an das Mantra zu erinnern. Jetzt ist 14h10. Noch keine Zeile geschrieben, ich sitze nicht am Schreibtisch, sondern auf dem Sofa.

„Die 8 Uhr Nachrichten höre ich mir stets gegen 11 Uhr an.“

Früher hätte ich mich sicher über mich selbst geärgert. Aber mittlerweile weiß ich: das ist reine Zeitverschwendung, und ich bin eh schon spät dran. Viel eher verwundert es mich, warum ich nicht endlich akzeptieren will, dass mein Rhythmus nicht dem Tagesplan entspricht, den ich seit Jahren durchzusetzen versuche.

Ich bin eine Nachteule, träume scheinbar aber vehement davon ein Early Bird zu sein. Fakt ist jedoch: selten schaffe ich es vor 2 Uhr ins Bett und ebenso selten vor 9 wieder raus. Die 8 Uhr Nachrichten höre ich mir stets gegen 11 Uhr an. Und Frühstück gibt’s bei mir erst ab 12 Uhr. Es gibt vielleicht nicht vieles, wofür ich garantieren kann, wohl aber dass ich jeden Tag erst gegen 14 Uhr aktiv werde – wenn’s gut läuft 13 Uhr. Und wenn ich tatsächlich mal um 07 Uhr aufstehe, frage ich mich am Ende des Tages immer: wozu? Ich finde dann nämlich jedes Mal tausend frühmorgendliche Beschäftigungen und beginne trotzdem erst ab 14 Uhr zu schreiben.

Natürlich könnte ich sagen: als Autorin pfeife ich auf „9 to 5“, schließlich kann ich schreiben, wann ich will. Aber es gibt ja neben dem Schreiben jede Menge Alltagsdinge, die man besser nicht nachts erledigen sollte. Etwa: seinen Zahnarzt anrufen, zum Markt gehen, sich an der Seine sonnen. Vor allem aber: meine Freundinnen und Freunde treffen. Seit der Pariser Ausgangssperre um 19 Uhr ist ein abendliches Treffen derzeit sowieso nicht möglich. Aber sogar vor Corona war es quasi utopisch Freunde noch gegen Mitternacht aus dem Haus zu locken – außer vielleicht ganz früher, als wir noch jung und wild waren, sprich: noch keine Kinder hatten.

Vielleicht habe ich deswegen auch gern Freundschaften nach Übersee. Ich bin eine treue Übersee-Freundin. Die Zeitverschiebung erlaubt es mir, auch tief in der Nacht soziale Kontakte pflegen zu können. Nicht selten kommt es vor, dass ich gegen 1 Uhr nachts zum Telefon greife und New York anrufe. Rauschen kann es dort eigentlich nur, wenn ich bereits ein Glas Wein intus habe, während New York noch beim After-Lunch-Espresso ist.

Mit den Freundinnen und Freunden vor Ort gestaltet sich das schwieriger. Sollte ich mir für Paris jüngere Freunde suchen, weil kinderlos und zu jeder Nachtzeit für ein Treffen bereit?

Ach.

Abgesehen davon, dass ich meine „alten“ Freundinnen und Freunde schätze und sie nicht austauschen möchte – so habe ich neulich wenigstens versucht, meinen Freundeskreis zu Jüngeren hin auszuweiten. Ist leider auch nichts auf Dauer. Mein 18-jähriger Nachbar hört definitiv nicht die Musik, die ich gerne höre. Außerdem benutzt er ein Deo, dass so penetrant ist, dass es von seiner Erdgeschosswohnung bis zu mir in den 5. Stock hochstinkt.

Neulich habe ich ihn deswegen nachts um 3 Uhr aus seiner Wohnung geklingelt. Ich habe ihm anvertraut, dass ich nicht glaube, dass dieser Duft bei Frauen gut ankommen wird. Okay, ich habe auch geklingelt, weil er an dem Abend eine nervtötend laute Party veranstaltete. Überrascht stellte er klar, dass es sich nicht um ein Deo, sondern um eine Duftkerze handelte. Ich fand nicht, dass substantiell etwas am Problem änderte. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gerochen und auch nicht mehr gesprochen. Ich ziehe es vor, ihn nun meinem Alter angemessen aus der Distanz bei einem Gläschen Wein dabei zu beobachten, wie er mit nacktem Oberkörper Muskeltraining auf dem Balkon macht. Und dann rufe ich New York an, um von meinen Pariser Eindrücken zu berichten. Danach ist schon wieder 2 Uhr früh und ich gehe zu Bett.

Stephen King sagt, dass es egal ist, wann man am Schreibtisch sitzt, Hauptsache es ist jeden Tag zur selben Uhrzeit. Damit die unzuverlässige Muse/Inspiration weiß, wann sie denn mal auf eine Zigarrenlänge vorbeischauen kann. Und er hat recht. So erlebe ich es auch. Bloß ändert es nichts an dem Problem, meine Freundinnen und Freunde sehen zu können.

Vielleicht muss ich warten, bis ihre Kinder aus dem Haus sind und sie ihren zweiten Frühling erleben. Aber eines weiß ich jetzt: es nützt nichts, seinen ganz eigenen Rhythmus verbiegen oder ändern zu wollen. Sich darüber zu ärgern hilft noch weniger. Es kostet nur kostbare Zeit und Energie, die man für wichtigere, interessantere Dinge aufwenden sollte.

Der Kampf gegen meinen Rhythmus war ein Kampf gegen mich selbst. Ich habe festgestellt, dass ich oft mein ärgster Feind bin. Doch dazu ein andermal mehr. Momentan zählt nur: ich habe mir vorgenommen liebevoller mit mir umzugehen. Schließlich bin ich vielleicht eine Eule, aber keine faule Eule. Wenn die Eule also erst um 10 Uhr aus den Federn will, und es vorzieht eine Zigarette zu rauchen, weil es ihre Synapsen mehr anregt als Yoga, dann soll sie das auch dürfen. Die Zeiten sind eh schon hart genug, die Welt verrückt – Gibt es eigentlich ein Netzwerk, um Nachteulen kennenzulernen?

Motto der Woche: Seid lieb zu euch selbst!

Song der Woche: 9 to 5 von Dolly Parton.

Bisous de Paris!

Safia

Corontine – Tag 23

Nichts genaues weiß man nicht. 

Am Montag durfte ich zum ersten mal nach zwei Wochen Quarantäne wieder vor die Tür. Heute ist Mittwoch, und ich möchte nicht mehr raus. Da draußen, im unmittelbaren Umkreis, dem Ein-Kilometer-Radius, den wir in Frankreich maximal um unsere Unterkünfte herum zurücklegen dürfen, in diesem Radius gibt es momentan wenig, das mir zusagt, dafür jedoch vieles, das mich verängstigt. 

Ich bin froh, wieder raus zu dürfen, diese Freiheit zu haben. Und ich bin froh, dass ich darf, aber nicht muss. Es gibt zu viele Unklarheiten, Zweifel zur Corona-Situation im Allgemeinen oder zu meiner Lage im Besonderen. 

Offiziell darf ich also wieder vor die Tür! Offiziell? Da fängt es ja schon an: Das „offiziell“ behaupte ich jetzt einfach mal, denn die vom Krankenhaus verordneten 14 Tage Quarantäne sind seit Montag tatsächlich verstrichen. Aber niemand rief mich an, weder mein Hausarzt noch die Ärzte aus dem Krankenhaus – die haben sich sowieso seit einer Woche nicht mehr gemeldet. Auch kein Vermerk oder Signal poppte im Kalender der Online-Platform für Corona-Patienten auf, die ich jeden Morgen abrufen muss, um über meinen Gesundheitszustand zu informieren. Im Gegenteil, in meinem Profil wird angezeigt, dass ich noch bis zum 15. April Fragebögen ausfüllen soll. Jeden Tag verlängert es sich sogar um einen weiteren Tag. Einerseits nett, dass der französische Staat wie es scheint, sich um meinen Gesundheitszustand sorgt und ihn auch nun, da ich wieder gesund bin, weiterhin beobachten möchte. Andererseits würde ich gern damit abschließen und als offiziell Genesene aus dem Covidom-Programm entlassen werden. Aber vielleicht haben die Betreiber der Platform noch nicht entscheiden können, wie lange sie die Daten der (potentiellen) Patienten sammeln? Ich gehe davon aus, dass das Programm innerhalb kürzester Zeit auf die Beine gestellt wurde, und so ungewiss wie das Virus wohl auch die Dauer der Datenerfassung sein wird.  

Was nun? Die 14 Tage Quarantäne sind vorbei. Sicherheitshalber zähle ich nochmal nach. Und nochmal. 15. Tage. 15 ist auch die Nummer des Rettungsdienstes in Frankreich. Soll ich dort anrufen, um mich zu erkundigen? 

Es würde mich nicht wundern, wenn die mir sagen würden: „Was? Sie füllen den Fragebogen noch immer aus??“ 

Es gibt ja die Leute, die schon für mehrere Monate Essvorräte gebunkert hatten, noch bevor überhaupt die landesweite Quarantäne verhängt worden war. Das sind auch diejenigen, die bereits im besten Restaurant der Stadt reserviert haben werden – bester Tisch, Panoramablick – sobald das Ende der Quarantäne offiziell verkündet wird. Ich gehöre nicht zu diesen Leuten, nein. Bei mir wird es vermutlich eher so laufen, dass die Quarantäne bereits seit einer Woche vorbei sein dürfte, bevor ich es mitbekomme. 

Statt den Notruf, wähle ich Maries Nummer und frage: „Gehst du jeden Tag raus?“ 

„Nein“, sagt Marie. „Nur wenn ich muss. Ist ja momentan nicht wirklich spannend, da draußen.“ 

„Du fehlst mir“, sage ich. 

„Du mir auch“, sagt sie. „Und hör auf zu weinen.“ 

Sie hat recht. Ich blicke aus dem Fenster. Es scheint wirklich an der Zeit, raus zu kommen – Bordsteine berühren, Gesichter in echt sehen, an die Realität andocken. Um den Anschluß nicht ganz zu verlieren. 

Draußen regnet es in Strömen. 

Es gehört viel Motivation dazu, Mantel und Schuhe anzuziehen, und das Rausgehen tatsächlich durchzuziehen, die Aufregung, was da draußen sein, was mich erwarten wird und wie ich darauf reagieren werde. Mir wird etwas mulmig. Weil das letzte Mal draußen lange her ist, und weil es Regeln gibt, neue Regeln vielleicht, von denen ich noch nichts mitbekommen habe, und weil alles anders sein könnte als gedacht? Es sind ja nicht bloß Mantel und Schuhe, die ich dafür anziehen muss, nein, ich kann nicht mal eben vor die Tür, um zu sehen, ob mir das Draußen zusagt, so wie man den Finger versuchsweise ins Badewasser taucht, um zu prüfen, ob es angenehm ist – sowas darf man in Frankreich nicht (mehr). Man braucht jedes Mal eine Ausgangsbescheinigung. Spontan die Nase an die frische Lust zu halten, mehrfach kurzfristig ein und ausgehen ist derzeit nicht möglich. Es gehört Organisation dazu, um vor die Tür zu gehen, es muss geplant sein. Also überlege ich mir gut, ob ich wirklich raus will, es gibt genug Momente, in denen ich einen Rückzieher machen könnte. Alleine das Timing: wann bin ich wirklich komplett angezogen, habe ich alles dabei? Kann ich endlich los? 

Pünktlichkeit, Planung – das gehört nicht gerade zu meinen Stärken. Immerhin kann man die Bescheinigung, die ich letztes Mal noch mangels eines funktionstüchtigen Druckers abschreiben musste, seit Neuestem auf dem Smartphone ausfüllen. Es wird dann ein QR-Code generiert und die genaue Uhrzeit festgehalten, wann man das Haus verläßt. Von da an läuft der Countdown für eine Stunde. 

Aber: der Mundschutz! Den muss ich doch noch basteln! Zwar hat mir mein Hausarzt ein Rezept für Masken ausgestellt, aber in den Apotheken gibt es keine. Also bastel ich mir selbst eine Maske. Das ist auch mehr als verwirrend: niemand weiß genau, wann man nicht mehr ansteckend ist. Und niemand scheint zu wissen, ob und wie lange man nach einer Covid-Erkrankung immun gegen das Virus ist. Und überhaupt: bis heute wurde ich nicht getestet! Was denn nun? Gefährde ich oder gefährden die anderen? Oder gefährden wir uns alle?  

Ein einziges Durcheinander. Nichts genaues weiß man nicht. Vielleicht sollte ich zu Hause bleiben. Einfach nie wieder vor die Tür gehen. Nur noch mit Tigrou und Tutu (meinen Kuscheltieren) vor der Glotze hängen und meiner neuen Leidenschaft für japanische Zeichentrickfilme von Miyazaki nachgehen. 

Schließlich raffe ich mich auf: Ein Mal um den Block spazieren und Milch kaufen. Ohne mit jemandem zu reden. Mit Maske. Die ich aus einem mit Zewa gefütterten Seidentuch falte. 

Ich ersticke fast daran, der Stoff ist viel zu dicht, zu fest, keine Luft kommt hindurch – es wird ein seeehr kurzer Spaziergang werden.  

Das Highlight des Ausflugs findet ohnehin gleich zu Beginn im Hausflur statt: auf den Briefkästen steht der kleine Geist des japanischen Zeichentrickfilms „Spirited Away“, thront dort als kleine Spielzeugfigur, wie ein Schutzengel für das Haus. Ich habe Mühe, es zu glauben und filme es. Den kleinen Geist kannte ich bis vorgestern nämlich nicht – da hatte ich den Film zum ersten Mal gesehen. Die junge Nachbarin aus dem Erdgeschoß kommt dazu und als sie sieht, dass ich filme, sagt sie: „Lustig, nicht? Er ist seit ein paar Tagen hier.“ 

Das letzte Mal hatte ich sie vor drei Monaten um vier Uhr früh gesehen: ganz uncool hatte ich bei ihr geklingelt, um sie zu bitten, die Musik leiser zu drehen – sie feierte da ihre Einweihungsparty. Ich war nicht stolz drauf, fühlte mich wie eine alte Spießerin und dann wiederum nicht, denn ich wollte einfach schlafen. Gut möglich, dass sie mich jetzt wegen der Maske nicht erkennt. Sie sieht blaß aus, und ihr Lächeln wirkt müde, etwas traurig. Und ich wünschte, wir lebten wieder in einer Zeit, in der unsere einzigen Sorgen lärmende Partys oder spießige Nachbarn sind. Sie lebt in einem winzigen Zimmer mit Blick auf die Mülltonnen. Dort verbringt sie ihre Quarantäne. Mach‘ Krach, Mädchen, lass es krachen, denke ich. 

Zum Reden ist keine Zeit. Wir lassen den kleinen, japanischen Geist hinter uns, die Nachbarin ist in Eile, sie treibt mich den schmalen Flur hinunter, wir müssen einen Meter Abstand halten, und mir fällt das Atmen schwer – auf der Straße trennen sich unsere Wege. 

Der Regen sorgt für leere Straßen, prallt mir die veränderte Welt mit voller Wucht entgegen – alles steht still, alles versteckt sich vor dem unsichtbaren Feind, der hier draußen lauert. Vielleicht aber ist der unsichtbare Feind in mir? Bin ich noch ansteckend? Mir wird schwindelig. 

Ich gehe zur Kathedrale von Notre Dame. Dort, wo sich sonst Touristen tummeln, lachende Stimmen in verschiedensten Sprachen die Luft erfüllen und Fotoapparate klicken, herrscht jetzt geisterhafte Stille. Bloß ab und zu rauscht ein Polizeiwagen vorbei. Ansonsten begegne ich niemandem. In den Supermarkt gehe ich nicht mehr. Zu wenig Sauerstoff, die Maske schnürt mir die Luft ab, vielleicht auch ist mir nach dem tristen Spaziergang die Lust vergangen. Ich will niemanden anstecken und nicht angesteckt werden, denke ich, als ich in den Hausflur zurückkehre. Der kleine Geist steht noch auf den Briefkästen. Wer hat ihn hier abgestellt? Für wen? Warum? Um uns alle zu beschützen? 

Gestern war ich dann im Bioshop, um einzukaufen. Dieses Mal hatte ich mir eine richtig gute Maske gebastelt. Und ich konnte mit den Verkäufern smalltalken. Auch sie trugen Mundschutz und sogar weiße Schutzanzüge und Chirurgenhandschuhe, und um die Kasse haben sie einen Glaskasten gebaut. Aber viele Leute standen vor dem Laden Schlange. Ich habe in der Eile die Hälfte der Sachen einzukaufen vergessen. Aufgeregt war ich und habe geschwitzt – 23 Grad warm war es, da sind Maske und meine Wollhandschuhe nicht sehr praktisch. Auf dem Heimweg dann, auf dem Gehsteig gegenüber, hustete eine Frau ungeniert laut und mit weit geöffnetem Mund. 

Draußen? Sicher fühle ich mich dort nicht. 

Und der kleine, japanische Geist ist aus dem Hausflur verschwunden. 

👻

Corontine – Tag 19

Rauchen, jetzt erst recht?

„Glückwunsch, Ihr Teint ist nun heller!“, verkündet heute auf dem Display meines Handys die Nichtraucher-App, die mir dabei helfen sollte, als frische Nichtraucherin durchzuhalten und nicht durchzudrehen. Ich blicke in den Spiegel, erstarre und denke: Pustekuchen. Ach was, eher: Streuselkuchen! Oder Erdbeere. Von wegen „glamouröser Nichtraucher-Teint“, pah. Mit der Akne würde ich es jetzt locker auf jede Corona-Party schaffen, problemlos könnte ich mich dort unter die rebellierenden Youngster mischen, über Clearasil fachsimpeln, und dann alle mit dem Virus anstecken. Haha. Aber: Nein. Die eigene Eitelkeit hält mich davon ab. 

Stattdessen kehre ich dem Spiegel den Rücken zu, werfe mein Handy in die Ecke und mich selbst aufs Sofa, vergrabe den Kopf in den Kissen. Den schönen Teint, den hatte ich, als ich noch rauchte! Seit 14 Tagen ist damit jedoch Schluss. 

Kopf hoch, denke ich – Die Quarantäne kommt im Grunde sehr gelegen! Sie muss bloß lange genug anhalten, bis meine Haut sich von dem Nikotinentzug erholt hat und ich wieder aussehe, wie ich als Raucherin aussah. 

Das Virus hat mich gezwungen, spontan Nichtraucherin zu werden – es war also nicht geplant, war kein längst fälliger Vorsatz, ich gehöre nicht zu den Leuten, die über Jahre hinweg versuchen, aufzuhören oder davon reden, dass sie es unbedingt wollen, nein, ich gehörte zu denen, die immer voll und ganz zum Rauchen standen, zu süchtig, um nur im Traum ans Aufhören zu denken, vielleicht auch zu enttäuscht von der Welt und daher nicht wirklich scharf drauf, auf diesem Planeten alt zu werden, keine Lust, der Gesellschaft als alte Frau eine Last zu werden und traurige Tage einsam im Altersheim verbringen zu müssen, dann lieber gehen, wenn das Leben noch pulsiert und viel passiert, das waren die Motivationen für meine Zigaretten: mich lieber Totrauchen, als alt werden zu müssen – was für eine Ironie, dass ich ausgerechnet jetzt aufhöre damit, als die Welt plötzlich aus den Fugen zu geraten scheint und alles unstet und ungewiss ist. Will ich in dieser neuen, unklaren Welt nun plötzlich doch alt werden? Oder hat die Ausnahmesituation meinen Überlebensinstinkt endlich geweckt, mich wachgerüttelt und mir gesagt: „Safia, Du willst doch leben und vom Leben so vieles! Du willst doch alt werden.“

Ich weiß es nicht. 

Ich weiß bloß, dass ich das Rauchen liebte, unvorstellbar war es für mich, je damit aufzuhören. Sogar an dem Tag, als Präsident Macron die absolute Ausgangssperre verschärfte und die Pariser eher damit beschäftigt waren, schnell noch möglichst viele Nahrungsmittel zu kaufen, hatte ich mich statt Essen schleunigst mit mehreren Packungen Tabak eingedeckt, genug, um getrost über einen Monat nach Herzenslust in Quarantäne paffen zu können, nach dem Motto: Wenn meine Lungen die Wahl haben zwischen Corona und Nikotin, wähle ich Tabak. Ha, was ich jedoch nicht wusste als ich den Tabakladen stürmte und Filter, Papier sowie Nikotin hamsterte, da hatten sich meine Lungen längst für das exotischere und anspruchsvolle Corona entschieden – oder eher: das Virus hatte sich zu dem Zeitpunkt bereits ungebeten in meine Lungen eingeladen und somit dem Nikotin den Zugang vermiest. Vor nunmehr 14 Tagen musste ich das Qualmen Corona-bedingt aufgeben. Zu gefährlich erschienen mir die Auswirkungen einer Covid-19-Nikotin-Party, ich hatte wenig Lust, dass meine Lungen anschließend so zerstört wären, wie ein Hotelzimmer, nachdem Keith Moon darin gewütet hat. In gewisser Weise habe ich also natürlich freiwillig aufgehört, für meine Gesundheit, das ja, aber es war eben nicht geplant. Das macht das Durchhalten umso schwerer. Hätte mir Anfang des Jahres jemand gesagt, dass ich im März Nichtraucherin sein werde, dann hätte ich gelacht. 

Ich zähle jeden Tag, den ich nicht rauche, sage es mir wie ein Mantra auf, um mir einzuschärfen, dass alles umsonst gewesen wäre, all die rauchfreien Tage unnötig gelitten, wenn ich ausgerechnet jetzt wieder anfinge zu qualmen. Bislang funktioniert der Trick. Mal sehen, wie lange. 

Aber ich will das jetzt durchziehen. Rauchen ist schäbig. Unnötig. Damit läßt man zu, abhängig von etwas zu sein, und ich will nicht mehr abhängig sein. Ich will glücklich sein können, ohne eine Zigarette dafür zu brauchen. Ich will den Moment einfach so genießen können, um seiner selbst willen. Und ich möchte mir selbst genügen. Ich möchte Kaffee gut finden, um des Kaffees willen – wozu das Nikotin? Ich möchte eine Pause, den Anblick des blauen Himmels und die Sonne, die meine Nase kitzelt, das alles möchte ich um den Moment willen genießen können. Wozu der Rauch, der benebelt? 

Ha, das klingt alles so leicht, so gut, aber mein Gaumen erinnert sich an den Geschmack der Zigarette, lechzt danach, meine Gedanken zu benebeln, um abzutauchen, mich in eine andere Welt zu träumen, abzudriften und Neues zu spinnen – es ist ein Kampf, auch jetzt, nach zwei Wochen. Oder vielleicht: gerade nach zwei Wochen ist der Kampf besonders stark, geht es jetzt um Lebenseinstellungen, um Ehrlichkeit mir selbst gegenüber: Was will ich vom Leben? 

„Ein Hoch auf die Quarantäne!“, denke ich also. Abgesehen davon, dass dadurch niemand meine vom Nikotinentzug deprimierte Haut sehen kann, hat die Quarantäne weitere Vorteile, um genau jetzt zur Nichtraucherin zu werden: nikotinanregende Ereignisse sind derzeit nicht erlebbar – Keine Bar kann mich locken, keine Pariser Terrasse anstiften, keine rauchenden Freunde können mich verführen – pafften sie mir etwa auf Facetime entgegen, würde ich die Kamera abschalten. 

Die Ausgangssperre ist mein Nikotin-Pflaster. 

Lustig, das letzte Mal, als ich aufgehört hatte zu rauchen, war das Gegenteil, eine Reise nämlich, der Anlass gewesen. 

Ich war damals 25 und für drei Wochen in den USA unterwegs. Eine wunderbare Reise, ich war zum ersten Mal in Amerika, zum ersten Mal hatte ich alleine ein Auto gemietet – ich stellte mir lauter Mutproben, um den Nikotinentzug zu kompensieren. Es war mir egal, dass ich damals noch auf der Reise satte fünf Kilo zunahm, ich zuckte mit den Schultern und kaufte mir am Broadway einen Hot Dog statt Klamotten. Auch die sensationelle Akne war mir egal, ich trug sie auf dem Rodeo Drive zur Schau. Alles, was zählte, war das Nichtrauchen durchzuziehen. Drei Jahre lang war ich dann tatsächlich Nichtraucherin. Heute blicke ich zurück und habe Mühe zu glauben, dass ich wirklich diese Person war. 

Zunehmen macht mir heute Angst. Das will ich nicht mehr. Und bestimmt ist es blöd, so zu denken, aber so ist das nunmal. Wenn ich schon nicht mehr rauche, dann möchte ich wenigstens die Figur behalten, die ich mir ausgesucht habe. Wie den Kaffee. Bei Kaffee habe ich sofort Lust auf eine Zigarette, aber wenn ich den Kaffee weglasse, jetzt auch noch darauf verzichte – was bleibt mir denn dann noch? 

Eine enge Freundin ist mit ihrem Mann und Kind von New York City aufs Land geflohen. Das Virus hat dort andere Auswirkungen auf den Alltag als in Europa. Ein anderer Freund hat sich heute aus New York City gemeldet – Dort herrscht Weltuntergangsstimmung. Ich schätze, wäre ich jetzt dort, ich würde heute vermutlich eher mit dem Rauchen anfangen, statt aufzuhören. So ein bisschen wie am Ende des Films „Fight Club“. 

Und dann denke ich an den Mann, der nicht raucht, und der vor kurzem erst wieder in meinem Leben aufgetaucht ist, und der aber weit, weit, weit weg ist – der ist es vielleicht trotzdem wert, nicht zu rauchen und an morgen zu glauben?

Ich wünsche Euch viele Gründe, an morgen zu glauben ❤️ 

Liebe Grüße!

Corontine – Tag 16 und 17

Ausruhen für Anfänger

Gestern gab es hier eine kleine Party! Das Problem der Nahrungsmittelbeschaffung hat sich erledigt! Es gab Spargel! Und Erdbeeren! Und Schokolade! Ein Festmahl wurde aufgetischt! 

Zu verdanken ist dies dem kleinen Bioshop bei mir um die Ecke. 

In den letzten Tagen hatte ich beklagt, dass die großen Supermärkte nicht lieferten, viele Produkte sowieso ausverkauft oder wegen der horrenden Nachfrage überteuert waren, und dass am Ende der fiebrigen Online-Einkaufsschlacht die Lieferung letztlich zu einer Fata Morgana verpuffte und einem nichts anderes übrig blieb, vor Ort einzukaufen, was ich als Corona-Patientin de facto ja nicht darf. Verzweifelt nach einer Alternative suchend rief ich also bei dem kleinen Bioshop um die Ecke an. Ich kaufe dort zwar nicht nur, aber oft ein, eigentlich vor allem Obst und Gemüse. Und ich fragte mich auch schon, wie der kleine Bioshop in Corona-Zeiten über die Runden kommt, wenn jetzt plötzlich alle alles online bestellen. 

Endlich wieder frisches Gemüse!

Ich rufe also dort an, und allein dieser Anruf hat mir klar gemacht, wie wichtig kleine Läden sind: der Verkäufer erkannte sofort meine Stimme, erinnerte sich, dass ich letzte Woche noch mit der Sonnenbrille bei ihnen aufgekreuzt war. Er sagte, dass sie dabei sind, einen Lieferservice zu organisieren. Und tatsächlich rief er zwei Tage später an, um mir grünes Licht zu geben. Ich konnte per Email bestellen und am Nachmittag schon standen zwei randvoll gefüllte Einkaufstüten vor meiner Wohnungstür. Dazu ein lieber Brief, um mir gute Besserung zu wünschen. Auch die Bezahlung war kein Problem, sie lassen mir Zeit, bis ich wieder gesund bin, um die Rechnung zu begleichen. So etwas wäre in einem großen Supermarkt undenkbar. Mir ist dadurch klar geworden, wie wichtig kleine Läden sind. Der persönliche Kontakt ist schon in „normalen“ Zeiten Gold wert, der Smalltalk, das Lächeln, das war mir vorher schon bewusst. Aber mehr noch zeigt sich jetzt, in Krisenzeiten, dass hier ein Zusammenhalt möglich ist, ein Vertrauen, dass es unmöglich über einen anonymen Riesensupermarkt geben könnte. Ich weiß jedenfalls, dass ich nach dieser Erfahrung jetzt noch mehr dort einkaufen werde als vorher schon, nicht mehr bloß Obst und Gemüse, sondern auch alles andere. Ich war so gerührt, als ich die Einkäufe und den lieben Gruß vor der Tür entdeckte. Ich glaube, das hat ein gutes Stück zu meiner Genesung beigetragen.

Ganz gesund bin ich noch nicht, aber ich kann es kaum abwarten, ja, und tue so, als wäre ich es bereits, wieder fit. Erst wenn mir schwindelig wird, sehe ich ein, dass jetzt vielleicht nicht der beste Zeitpunkt ist, die Wohnung aufzuräumen. 

Ich glaube, meine größte Schwäche ist die Ungeduld. 

Auf Netflix lege ich große Listen an: Filme, Dokus und Serien, von Miyazaki über Brad Pitt, von Spider Man über Spike Lee bis hin zu Big Bang Theory oder einer Doku über die Windsors oder auch über Tiere oder Lady Gaga, immer nur her damit, deutsche Serien, amerikanische Thriller und französische Films Noirs – Material, um getrost über ein Jahr abzutauchen. 

„Für später“, denke ich bei jedem Klick. Stattdessen einfach auf „Play“ zu drücken, und die Filme JETZT anzusehen, das fällt mir nicht ein. Dass JETZT vielleicht dieser Moment gekommen ist, dieser ominöse Moment, endlich, für den ich die unerschöpflichen Playlists – nicht nur auf Netflix, sondern auch auf diversen anderen Kanälen – an Podcasts und Videos und Reportagen minutiös erstellt habe, darauf komme ich nicht. Ich klicke für die Zukunft, verlängere die Liste, schiebe auf: für den Moment, wenn ich mich dann endlich mal ausruhen, mich erholen kann und darf. Das kommt in ungewisser Zeit irgendwann einmal, ist ein unbestimmter Punkt in der Zukunft – bis mir schwindelig wird vom Stöbern in der Videothek und den lauten, viel zu rasanten Trailern, die Lust auf jene Serie oder diesen Film machen sollen und mir jedoch bloß eines klarmachen: ich bin JETZT krank. Nicht morgen. Ich lasse die Fernbedienung sinken, mir wird klar: „Dieser Moment, an dem du dich endlich mal ausruhen wirst, weswegen du jetzt schuftest, Dinge erledigst, lieber Zuviel als zu wenig, um Zeit und Luft für diesen tollen Verschnauf-Moment später freizuschaufeln, hey, diesen Moment, den gibt es in Wirklichkeit gar nicht. Denn den hast du bisher nicht festgelegt. Du lügst dir etwas vor, Safia.“ Ich sollte mich jetzt ausruhen. Aber genau das fällt mir schwer. Ich denke mir immer: „Komm, hier noch schnell den Bürokram erledigen, fix diese EINE Email beantworten, kurz staubsaugen, und dann kannst du dich wirklich ausruhen.“ Statt einmal einfach alles stehen und liegen zu lassen. 

In den letzten Tagen musste ich tatsächlich alles stehen und liegen lassen, da war ich zu schwach und mir blieb nichts anderes übrig. Aber nun, da die Kräfte allmählich zurück kehren und ich genese, scheine ich mich sofort wieder in das alte Schema der Tretmühle zu stürzen, will wieder tausend Dinge an einem Tag erledigen, sonst nagt das schlechte Gewissen. Und das schlechte Gewissen scheint in der Quarantäne ein leichteres Spiel zu haben als sonst, denn in der Wohnung sind die Wege kurz, sofern man nicht in einem Palast lebt. Und die Zeit ist lang. Gute Voraussetzungen also, um mehr als sonst auf die Reihe zu kriegen. Ein Zwang! In Quarantäne habe ich das Gefühl, an einem Tag noch mehr bewältigen zu müssen, als sonst. Und weit in die Ferne rückt somit der Moment, an dem ich mich erholen darf, kann. 

Vermutlich liegt es aber nicht nur am schlechten Gewissen, dass ich mich nicht ausruhen kann, sondern auch an der sonderbaren Situation, in der wir uns alle derzeit befinden: eine Quarantäne wegen eines mysteriösen Virus über den niemand so richtig Bescheid weiß. Dazu, die Ungewissheit wann und wie die Quarantäne aufgehoben werden wird. Die Frage, wie wir danach leben werden. Werden wir wieder wie vorher reisen dürfen? Werden wir das wollen? In Cafés gehen dürfen? Konzerte besuchen? Werden die Leute ihre Jobs zurückbekommen? Wird sich die Wirtschaft erholen? Werden wir solidarischer sein oder rassistisch werden? Angst voreinander haben oder zusammenhalten? Wird es eine Revolution geben? Neid einzelner Staaten aufeinander? Oder internationale Kooperation? Eine neue Weltordnung? 

Ich könnte noch tausend Fragen an die Zukunft stellen, sie ziert sich und antwortet nicht. Mysteriös gibt sie sich, und unberechenbar wie sie ist, wird sie alles darauf anlegen, die Dinge bis zum letzten Moment offen zu lassen. Die Zukunft legt sich nicht fest, sie bleibt gern vage, liebäugelt mit vielen Möglichkeiten und lässt sich mehrere Türen offen. 

Das macht es schwierig für mich, abzuschalten. Ich habe Mühe, mich auf etwas anderes zu konzentrieren, zumal das Virus noch dabei ist, in meinem Körper nachzuklingen, mich immer mal wieder taumelnd daran erinnert, dass dies kein Traum ist. 

Meditation wird ja so gepriesen. Und vor Corona war es tatsächlich etwas, das ich manchmal anstelle eines Mittagsschlafs machte und erfrischend fand. Jetzt jedoch, in den wilden Corona-Zeiten? Da wirkt kein „Om“ und kein Mantra mehr bei mir, im Gegenteil, es wird mir nur noch schwindeliger davon, und ich habe Angst, die Kontrolle über meinen Körper zu verlieren. Vielleicht, weil derzeit alles unstet ist, kann ich mich nicht treiben lassen. So, wie man doch in guter Verfassung sein muss, sich gut fühlen muss, um in unbekannten Gewässern zu schwimmen? 

Ein Glück gibt es Marie: „Ich habe einen japanischen Zeichentrickfilm gesehen! GROSSARTIG!“, schrieb sie vorgestern. Als gestern ein weiterer Meditationsversuch fehlschlug, habe ich mir stattdessen also den empfohlenen Film angesehen – 

„Only Yesterday“ von Isao Takahata ist ein kleines Wunder: Es war das erste Mal seit Quarantäne-Beginn, dass ich abschalten konnte. Die feinen Animationen eines Lebens in einer mir fremden Kultur, die poetische Sprache, die langsamen Einstellungen, das Kontemplative – der Film schaffte es, mich komplett einzunehmen und abzulenken. Also habe ich danach eine ausgiebige Liste aller japanischen Zeichentrickfilme erstellt, die ich finden konnte. Und jetzt breche ich die Tafel Schokolade aus dem Bioshop an und drücke auf „Play“. 

Lasst es Euch gut gehen, vor allem wünsche ich Euch: Gute Entspannung!

Corontine – Tag 14

Tutu ist der MacGyver der Einsamkeit

„Warum fällt mir das Atmen heute wieder schwerer?“, fragte ich den Arzt gestern am Telefon. 

„Das Virus ist wie eine Achterbahnfahrt, es fluktuiert“, sagte er. Aha. Heute so, morgen so. 

Wirklich beruhigend finde ich das nicht, aber die Ärzte versichern mir, dass meine Symptome auf einen milden Verlauf hindeuten und ich nicht in Lebensgefahr schwebe. 

Das Coronavirus spielt nicht bloß mit der Gesundheit, auch die Psyche wird strapaziert und leider auch so manche Freundschaft. 

Vorgestern habe ich mich mit einer meiner längsten Freundinnen zerstritten. Der Auslöser war eine Winzigkeit und die Reaktion auf beiden Seiten total disproportioniert – so wie das kleine Virus zur Pandemie wurde, machten wir, so erschien es mir, im Nu aus einer Mücke einen Elefanten. An Details erinnere ich mich nicht mehr, zu schwach bin ich noch, zu erschöpft von der Krankheit, um die Scherben zu analysieren. Ich weiß bloß, ich wollte nicht streiten, bat auch am Telefon darum, schonen müsste ich mich, bitte kein Streß, und plötzlich fauchten wir uns dennoch an, schaukelten uns hoch und warfen uns Absurditäten an den Kopf. Die Extremsituation, in der wir uns alle gerade befinden, ruft scheinbar extremes Verhalten hervor. Das macht mich traurig. Und ich muss erst gesund werden, bevor ich mich diesem Konflikt erneut stellen kann. Freundschaften in der Warteschleife, wie so vieles anderes auch momentan. 

Wann hat das Warten ein Ende? 

Ich bin wütend. Weil ich mich nicht besser fühle. Weil jeder Tag gleich aussieht, ein mattes Dahintreiben, kaum konzentrationsfähig, wenig Energie. Aber wütend ist vermutlich besser als nichts. Besser, als nichts zu empfinden. Während ich diese Zeilen schreibe, wird mir jedoch schwindelig, und das gefällt mir nicht. Dann lieber zanken, streiten, schimpfen. 

Solange ich wütend sein kann, kann es mir gesundheitlich doch nicht so schlimm gehen? Sonst könnte ich jetzt sicher nicht schreiben. Und dann hätte ich vorhin auch nicht meinen Herd anbrüllen können, als die Milch überkochte. Oder den Staubsauber, weil sich das Kabel verheddert hatte. Ausser Puste war ich trotzdem. Hatte starkes Herzklopfen. Die Wangen glühten. Aber wenigstens war das ein Beweis: ich lebe. Das finde ich dieser Tage nämlich gar nicht leicht, das eigene Sein festzustellen. Bin ich wirklich? Passiert das alles gerade tatsächlich? Und wirklich auf der gesamten Welt? Oder ist es bloß ein Fiebertraum? Spielt das überhaupt eine Rolle? 

Ob Traum oder Realität, es macht mir Angst, vor allem Nachts – mehrfach wache ich schweißgebadet und nach Luft ringend auf, mir ist schwindelig, die Lungen füllen sich nur träge mit Luft, der Puls rast. Ich stehe auf und trinke ein Glas Wasser, versuche mich zu beruhigen. Eines der beiden Kuscheltiere, die ich seit Quarantäne-Beginn aus dem Schrank gefischt habe, der Tiger „Tigrou“, sieht mich schweigend an. In seinem Blick meine ich zu lesen: „Nur die Ruhe bewahren.“ Das andere Kuscheltier, „Tutu“, macht sich nichtmal die Mühe aufzuschauen, sondern bleibt einfach liegen und schläft weiter. Dann kann es doch nicht so schlimm sein. Ich streichele den beiden über den Kopf und lege mich wieder hin. 

„Sag bitte Bescheid, sobald Tutu zu sprechen beginnt“, sagte meine Freundin Marie neulich, als sie vom anderen Ende der Stadt anrief. (Mit ihr habe ich mich noch nicht zerstritten.)

„Wie läuft es mit deinem Freund?“, fragte ich. 

Marie antwortete nicht. 

Ich frage mich, wie viele Paare sich derzeit wohl wünschen, der Partner oder die Partnerin würde endlich den Mund halten und sich in ein schweigsames Kuscheltier verwandeln. Und nicht bloß Paare: Ein Freund erzählte mir, dass er in der Küche seiner WG neulich auf einen Schleifstein gestoßen sei – Wer in der WG wetzt neuerdings Messer? 

Mordgelüste in Zeiten von Corona sind vermutlich keine Seltenheit, steigen vielleicht sogar proportional zur Zahl der Neuinfektionen. Apropos: Die Freunde, die für mich einkaufen wollten, mussten kurzfristig absagen – der Mann liegt seit gestern wegen des Virus flach. 

Schade, dass weder Tutu noch Tigrou die Einkäufe übernehmen können, denn immerhin wären die beiden immun gegen das Virus. Leider sind sie aber auch zu klein. Niemals könnten sie die Tüten alleine tragen. Für die vielen Stockwerke bräuchten sie eine halbe Ewigkeit. Zudem traue ich ihnen nicht, was das Bezahlen anginge – ich glaube kaum, dass sie wissen, wie man mit Geld umgeht. Sie würden vermutlich alles für Gummibärchen und Chips verschleudern, vielleicht auch eine Flasche Rosé, die sie noch im Laden köpfen würden. Und wer weiß, ob sie anschließend überhaupt wieder heim finden würden.

Trotzdem kann ich nur beteuern: Tigrou und Tutu sind die perfekten Quarantäne-Gefährten. Vor allem Tutu, ein wahrer Profi. Wie vermutlich die Mehrzahl der von Kindern verbannten Stofftiere war er über ein Jahrzehnt in einer ollen Holztruhe isoliert. Er weiß also bestens, wie es ist, auf sich allein gestellt zu sein, mit wenig Essen und kaum Sonnenlicht klarzukommen und stoische Ruhe zu bewahren. Er kennt die Kniffe, die Tricks, um mit Einsamkeit umzugehen. Er ist ein Meister nicht nur des Zen, sondern auch des „Wer zwinkert zuerst“-Spiels – wie im übrigen auch Tigrou. Es liegt also auf der Hand, dass ich von den beiden noch viel lernen kann. 

Dass ich als Kind Tutu damals überhaupt in die blaue Kiste verbannen musste, daran ist mein Vater Schuld. Ich muss vier Jahre alt gewesen sein und erinnere mich noch genau, als ich mit ihm vor der riesigen blauen Truhe stand. Wie mein Vater versuchte, mich mit einem original Steiff-Teddy zu ködern, der mich nie im geringsten interessiert hat, schon damals nicht – Knopf im Ohr hin oder her -, dessen Namen ich längst vergessen und von dem ich mich vor Urzeiten getrennt habe. Ich sollte Tutu in der Kiste begraben, und zwar: „Für immer.“ Im Gegenzug sollte ich den von meinem Daddy gepriesenen Teddy erhalten. Mir war der Teddy sowas von gleichgültig. Ich verstand auch nicht, warum Tutu nicht bleiben durfte? In meinem Leben und in meinem Zimmer war doch genug Platz für beide. Es tat weh, mich von Tutu zu trennen, und ich tat es letztlich nur, um meinem Vater den Gefallen zu tun. Irgendetwas hatte er gegen Tutu, das spürte ich. Und als Kind wollte ich natürlich wie alle Kids in erster Linie, dass es meinen Eltern gut ging, dass sie glücklich und folglich lieb waren. 

Erst Jahre später kam ich dahinter, dass mein Vater das Tutu-Begräbnis bloß veranstaltet hatte, weil er meine Oma nicht mochte – Tutu war ein Geschenk von ihr gewesen und ausgerechnet mein Lieblingsstofftier geworden. 

Aber ein Lieblingsstofftier kann man nicht einfach ersticken. Ich bin froh, dass der Plan meines Vaters nie richtig aufgegangen ist – dass ich, im Gegenteil, den kleinen Tutu dadurch vielleicht mehr und länger ins Herz geschlossen habe, als unter normalen Umständen. Als Teenagerin befreite ich ihn etwa wieder aus der Holztruhe und nehme ihn seither Umzug für Umzug überall hin mit. Natürlich verbringt er die meiste Zeit im Schrank, aber er hat dort einen guten Platz, dafür sorge ich. 

Der positive Aspekt der Geschichte ist jedenfalls, dass Tutu durch seinen Truhen-Aufenthalt heute ein gewiefter Solo-Quarantäne-Experte ist, quasi der MacGyver der Einsamkeit, der Indiana Jones der Isolation. Gemeinsam mit Tigrou – der als Geschenk meines Ex-Freundes auch ein paar Quarantäne-Jährchen im Schrank auf dem Buckel hat – bilden sie ein starkes Team. Abgesehen davon, dass sie gerne mit mir „Breaking Bad“ schauen und auch sonst nichts gegen mein vorzügliches (!) und variiertes (!!) Freizeitprogramm einzuwenden haben (Kaffee, telefonieren, Yoga, duschen, Frühstück, telefonieren, kochen, Tea-time, telefonieren), sind sie diskret und dennoch nicht abwesend. Tutu drückt ein Auge zu, wenn ich morgens nach dem Wecker weiterschlafe, nachts hält Tigrou Wache, Tutu meckert nicht, wenn ich erst mittags frühstücke, und Tigrou beobachtet alles aufmerksam. Außerdem sind sie großartige Zuhörer. Manchmal sehe ich die beiden auch den ganzen Tag nicht, weil sie es vorziehen, im Bett zu fläzen, während ich im Wohnzimmer dem Quarantäne-Alltag nachgehe (Kaffee, telefonieren, Yoga, duschen, Frühstück, telefonieren, kochen, telefonieren). Somit gehen wir uns nie auf die Nerven. 

Natürlich ersetzen Tutu und Tigrou nicht die Freunde, und lieber würde ich mit Marie bei einem Kaffee sitzen oder mit ihr das „Wer zwinkert zuerst“-Spiel spielen (und nicht nur, weil ich dann eventuell endlich auch mal gewinnen würde). Ich finde bloß, dass Stofftiere in der Quarantäne bislang unterschätzt wurden. Und eines fehlt mir sicher nicht: das Zanken und Streiten.

Ich hoffe entsprechend, Ihr verbringt eine harmonievolle Quarantäne-Zeit! 

Liebe Grüße aus Paris!