Seit 14 Jahren lebe ich nun in Paris. Und bis vor kurzem dachte ich genau zu wissen, warum. Doch vor ein paar Tagen spülten meine Gedanken völlig unerwartet eine ferne Erinnerung aus meiner Jugend an die Oberfläche zurück. Es war einer dieser seltenen Momente, in denen alle Filter wegrutschen und man plötzlich die rohe Wahrheit erkennt: mein Vater auf dem belebten Boulevard Haussmann vor den Galeries Lafayette, um uns herum Trubel und lärmender Verkehr, ich muss 12 Jahre alt gewesen sein, es war meine erste Parisreise und ich folgte meinem Vater, als er plötzlich anhielt und zur gegenüberliegenden Seite des Boulevards hinüberblickte, wo eine junge Frau und deren Freundin aus der Menge hervorstachen, lachend und beschwingt auf hohen Absätzen an den schicken Schaufenstern entlang liefen, so hübsch, elegant und voller Lebensfreude. Ich fühlte mich wie in einem Film, der erst beschleunigt und dann in Zeitlupe auf diese eine Frau zoomte, ihr unfassbar schönes Lächeln, die langen Beine, der freche Kurzhaarschnitt, die schicke Sonnenbrille und die sommerliche, runde Korbtasche über ihrer Schulter – ich wollte auch so sein, aber es erschien mir als komplexbeladene und mittellose Teenagerin unerreichbar. Und dann sah sie plötzlich zu uns. Erschrocken und peinlich berührt davon, dass ich sie so angestarrt hatte, drehte ich mich hilfesuchend zu meinem Vater, der mich jedoch gar nicht wahrnahm. Er sah zu ihr.
Das war der Moment. In jener kurzen Erinnerung zeigte sich mir plötzlich der wahre Grund, weshalb ich nach Paris gezogen war. Nicht meine französischen Wurzeln hatten mich hierher geführt. In Wirklichkeit suche ich seit nunmehr 14 Jahren in der Metropole nach diesem Blick, dem Blick meines Vaters, den er dieser jungen Frau geschenkt hatte. Mir sollte er gelten. Mich sollte mein Vater bewundern. Wie früher. Als ich noch seine Prinzessin und er mein Held war – bevor er zu einem strenggläubigen Muslim wurde.
Mein Vater war immer schon vieles: überzeugter Marxist und Maoist, leidenschaftlicher Langzeitstudent und vehementer Verfechter des Peace and Love. Aber Religion gehörte definitiv nicht zu seinen Interessen, als er in den 60er Jahren fürs Studium aus dem fernen Irak nach Deutschland zog. Wie alt genau er damals war, weiß niemand, nicht einmal er selbst. Wir wissen nur so viel: im Jahr seiner Geburt war die Ernte wohl recht gut ausgefallen, und dass es an seinem großen Tag in Strömen regnete, doch just in dem Moment als er zur Welt kam, brach die Sonne zwischen den grauen Wolken hervor und strahlte ihm ins Gesicht. Die deutschen Behörden schlussfolgerten daraus, dass dies unumstritten an einem Apriltag gewesen sein musste. Anno…? Mein Vater lächelte zufrieden, wählte sein Wunschdatum aus, und stürzte sich dann kopfüber in die damals aufblühende Hippie-Ära, verliebte sich augenblicklich in das pulsierende Leben des abenteuerlichen Deutschlands – alles neu, fremd und so anders als im Irak -, und vor allem in viele, viele Frauen. Bei der erstbesten Gelegenheit kaufte er sich ein knallrotes Cabriolet und flitzte mit quietschenden Reifen nach Hamburg, nach München, nach Frankfurt und Göttingen, an die Nordsee und bis ins Schwabenländle, um die Fülle deutscher Kultur unter ihren diversen Aspekten und in all ihren Nuancen genauestens zu erkunden… Natürlich geschah das BEVOR er meiner Mutter begegnete. Aber er erzählte mir gerne von seinen wilden Studentenzeiten, in denen er mehrere Liebschaften zugleich und so ziemlich alle Drogen ausprobiert hatte, die der damalige Markt zu bieten hatte. Wohl dosiert versteht sich, und ganz einem väterlichen Verantwortungsbewusstsein entsprechend, ließ er genauere Details zwar aus, aber im Gegensatz zu den anderen Erwachsenen in meiner Jugend, sprach er offen zu mir und gewährte Einblicke in die freie Welt jenseits der magischen 18, was mich und meine Freundinnen als Teenagerinnen natürlich brennend interessierte.
Ich war seine beste Zuhörerin und er mein bester Freund. Bis er dem Islam verfiel.
Es mag sonderbar klingen, dass ich ausgerechnet nach dem Blick meines Vaters suche, den er einer fremden Frau zuwarf, weil er sie eindeutig attraktiv fand. Doch als er ein paar Jahre danach zu einem Muslim wurde, der unsere Familie zerstörte, war ich viel jünger als die Frau damals in Paris. In meiner verworrenen Logik wurde dieser Blick seines früheren Ichs zu dem Blick, den ich mir von ihm an mein zukünftiges Ich wünschte. Ich hoffte, wenn ich erst das Alter dieser Frau erreichte und dann so wäre wie sie, wenn ich das schaffte, dass dann auch er wieder werden würde wie damals.
„Il fil öcküll moos.“ Der Elefant ißt Bananen. Das ist so ziemlich der einzige Satz, den ich noch auf irakisch kann. Seit meinem vierzehnten Lebensjahr will mir ansonsten kein weiteres Wort mehr einfallen, bis auf eben diesen einen Satz. Vielleicht, weil die damit verknüpfte Erinnerung eine der wenigen guten ist, die ich noch mit dieser Sprache verbinde. Ich muss drei Jahre alt gewesen sein, als ich meinem Vater von dem Elefanten und den Bananen erzählte, und zwar bis er darüber lächelnd einschlief. Eigentlich hätte es umgekehrt sein sollen, zumal mein Vater ein begnadeter Geschichtenerzähler war und auch heute noch ist. Bloß haben die Märchen, die er heute erzählt, leider nichts mehr mit den wunderbaren Welten aus tausend und einer Nacht zu tun. Heute verbreitet er lieber Verschwörungstheorien und predigt über den Jüngsten Tag.
In meiner Kindheit war mein Vater oft wochenlang verreist. Er fuhr zahlreiche Autos auf der irren Strecke von Saarbrücken bis ins ferne Bagdad, um sie dort zu verkaufen. Wenn er zurückkam brachte er jedes Mal Geschenke mit: orientalischen Goldschmuck, sonderbare Süßigkeiten und exotische Früchte. Am besten waren jedoch die Abenteuer, die er von seinen Reisen zu berichten hatte. Einmal hatte er sich in der Wüste verfahren, und einzig sein Feuerzeug rettete ihn. Ein anderes Mal musste er vor dem arabischen Geheimdienst fliehen, weil sie ihn für einen Diamantenschmuggler hielten. Er segelte den Tigris hinab bis nach Basra und den Euphrat wieder hinauf, sah Tote aus den Gräbern Najafs auferstehen und entdeckte in Mossul die kostbarsten antiken Schätze. Oft saß ich stundenlang bei ihm in dem Raucherzimmer, das er sich auf dem Dachboden eingerichtet hatte, um ihm zuzuhören. Hier hing der Charme der allmählich verblassenden 68er-Ära noch in der Luft. An einer der weißen Wände war die riesige schwarze Grafik eines Revolvers gemalt, noch von den Hippies, die vor uns hier gewohnt hatten, wie auch die Fußabdrücke, die sie im Zement des Dachbodens hinterlassen hatten. Es roch nach fernen Reisen, nach Kupfer und Messing, und nach dem Leder alter Autos, die in gleißender Hitze über staubige Straßen und durch die Wüste bretterten, immer dem Locken fremder Klänge und mystischer Tänze hinterjagend. Der dichte Rauch in diesem Zimmer war gefüllt mit den sagenumwobenen Abenteuern meines Vaters.
Doch ebenso wie ich bis heute rätsele, weshalb unsere Hippie-Vormieter entgegen ihrem pazifistischen Image ausgerechnet einen Revolver an die Wand gemalt hatten, werde ich wohl auch nie begreifen, weshalb mein Vater sich ein paar Jahre später so radikal von seinem früheren Leben abkehren sollte.
Er war schon immer ein charismatischer Mann gewesen, aber auch eitel. Er stand auf schicke Klamotten und schnelle Autos, studierte Soziologie und Politikwissenschaften, und während der Semesterferien schuftete er in einem Stahlwerk, um sich einen schnittigen Sportwagen leisten zu können. Er war ein Dandy, der gern damit prahlte, dass er oft für Al Pacino gehalten wurde. So gering die Chance auch war, dass der echte Pacino sich tatsächlich mal nach Saarbrücken verirrte, davon wollte mein Vater nichts hören, und noch weniger mochte er es, wenn man ihn mit Dustin Hoffman verwechselte. Schließlich sah der Rainman nicht annähernd so gut aus wie Scarface.
Aber eigentlich ist mein Vater eher ein Cat Stevens. Beide änderten ihr Leben radikal, indem sie von heute auf morgen Muslime wurden. Im Gegensatz zu Stevens jedoch, der sich bereits 1977 in Yusuf Islam umtaufte, machte mein Vater seine Bekehrung erst in den frühen 90er Jahren durch, parallel zum zweiten Golfkrieg und ausgerechnet dann, als ich mit 14 Jahren mitten in der Pubertät steckte. Das war umso schlimmer, weil er bis dahin sehr bedacht darauf gewesen war, mich als einen Sproß der wilden 70er Jahre zu einer freiheitsliebenden, eigenständigen und unabhängigen Frau zu erziehen, die sich nichts von niemandem bieten lassen sollte.
Einst war ich sein ganzer Stolz. Plötzlich war ich ihm nichts mehr wert, weil ich eine Frau bin.
Es gibt viele Gründe und mögliche Auslöser, aber keinen Trost. Kurz zuvor war seine Mutter im Irak gestorben. Der Golfkrieg zerstörte seine Geschäftsbeziehungen. Die Trauer, der berufliche Misserfolg, die Arbeitslosigkeit, vielleicht auch die Sehnsucht nach einer Welt, die es so niemals (wieder) geben würde – gute Zutaten für eine Midlife-Krise. Bloß war es keine Krise, sondern eine irreversible Verwandlung.
Von einem Extrem ins andere.
Einst vermachte er mir seine umfassende Sammlung an Playboy-Magazinen (von den 60ern bis in die 80er hinein!). Kaum ein Jahr später jagte er mich mit einem Stock durchs Treppenhaus, weil ihm die zerrissenen Jeans, die ich trug, unsittlich erschienen.
Einst war mein Vater der coole Buddy, der mich verstand und mir alles erlaubte.
Er war nicht bloß mein Held. Auch meine Freundinnen fanden, dass er der coolste Papa der Welt war. Als wir noch Kinder waren, erzählte er uns nicht nur wunderbar gruselige Märchen aus tausend und einer Nacht, sondern er spielte auch mit uns. Welcher Vater tat das damals schon? Dass es vielleicht daran lag, weil er job- oder eher arbeitslosigkeitsbedingt einfach mehr Zeit hatte als andere Eltern, das war uns Kindern natürlich Schnuppe. Und vielleicht spielte er genau deswegen auch so gern mit uns, weil wir ihn nicht nach seinem beruflichen Status oder Bankkonto beurteilten, und weil er mit uns in eine Parallelwelt abtauchen und somit vor seinen Problemen flüchten konnte. Er enterte unser imaginäres Piratenschiff, reiste mit uns unter stürmischsten Wetterbedingungen bis ans Ende der Welt (in Wirklichkeit die Küche) und suchte mit uns nach verschollenen Schätzen (die von meiner Mutter frisch gebackenen Rosinenschnecken im Ofen). Unsere gesamte Wohnung wurde zum Wunderland. Mittendrin meine arme Mutter, die dem Tohuwabohu fassungslos zusah und fast einen Herzinfarkt erlitt, weil sie um ihre kostbaren Kristallvasen bangte.
Auch als meine Freundinnen und ich den Yellow Brick Road ins Teenager-Alter nahmen, blieb mein Vater ein beliebter Weggefährte. Unterwegs besorgte er sogar einmal einen ausrangierten Spielautomaten. Erst viel später wurde mir klar, dass meine Mutter wenig erfreut darüber gewesen sein musste, als er das Ding voller Stolz heim brachte und in unserer Diele aufstellte. Meine Freundinnen hingegen waren davon mindestens so begeistert wie er.
Bis er dem Islam verfiel, war mein Vater die erste Bezugsperson für mich. Wenn ich ausgehen wollte, fragte ich immer zuerst ihn. Wenn ich Liebeskummer hatte, tröstete er mich. Wenn ich ein Problem hatte, vermochte er es, mich aufzumuntern. Zwar weiß ich mittlerweile, dass er ein ziemlicher Narzisst ist und bestimmt darauf bedacht war, immer von allen bewundert zu werden. Aber es ändert nichts daran, dass ich eine unvergesslich gute Zeit mit ihm hatte. Er war damals da für mich. Mehr noch: er nahm mich ernst und behandelte mich wie eine erwachsene Person.
Die Religion hat einen völlig anderen Menschen aus ihm gemacht.
Lange hielt meine sehr französische Mutter das auch nicht aus. Ihr buntes Make-up, die sexy Miniröcke und der grelle Nagellack waren Schandflecke in der grauen neuen Welt meines Vaters. Es half ihr auch nicht, ihr Entsetzen darüber mit einem Glas Rotwein wegzuspülen. Im Gegenteil, es bescherte ihr bloß blaue Flecken, graublau wie ein plumper Kaftan. Meine Eltern trennten sich als ich 15 war, und es erklärt sich wohl von selbst, dass mein kleiner Bruder und ich bei Maman blieben. Kurze Zeit später heiratete mein Vater eine Muslimin und bekam mit ihr ein Kind. Meine Halbschwester ist jetzt neunzehn Jahre alt. Neulich fragte sie mich scheu unter vier Augen: „Durftest du damals einen Freund haben?“
Als ich 2012 meinen ersten Roman schrieb, muss ich Sehnsucht nach dem Mann gehabt haben, der er früher einmal gewesen war. In AM ENDE IST NOCH LÄNGST NICHT SCHLUSS geht es um vier Alt-68er, die sich in ihrer Jugend geschworen hatten, lieber kollektiv Selbstmord zu begehen als ins Altersheim zu müssen. Ein früherer Freund meines Vaters war gerührt, weil er sich darin wiedererkannte und an seine wilde Zeit erinnert fühlte. Genauso sei es damals gewesen. Mein Vater hingegen verleugnete jegliche Parallelen. Als hätte er sein früheres Leben ausradiert. Überhaupt, so ließ er mich wissen, fand er es nicht gut von mir, so ein Teufelszeug zu schreiben. Doch dann tauchte er wider Erwarten bei meiner Lesung in Saarbrücken auf. Zwar setzte er sich abseits in eine Ecke und machte sich anschließend auch relativ schnell und ohne viele Worte davon. Aber er war da gewesen.
Eine Freundin, die an dem Abend auch anwesend war, erzählte mir später, dass er während der Lesung mächtig stolz auf mich gewirkt und mir voller Bewunderung zugehört hätte.
War es das gewesen, wonach ich mich so lange gesehnt hatte? Zu flüchtig war es gewesen. Ich hatte ihn nicht gesehen, den Blick, nach dem ich noch heute in den Straßen von Paris suche.

Song der Woche: “Message Personnel” (Françoise Hardy)