Was frau darf

Um Himmels Willen! Warum tanze ich im Badeanzug unter der Dusche??

Ein Bekannter reagierte entsetzt, als er mich neulich in meiner Story auf Facebook im Badeanzug sah. Genau genommen ist er ein Ex-Geliebter und ebenfalls Autor, noch dazu eigentlich recht erfolgreich, aber scheinbar ist ihm langweilig. Er verstand nicht, wie ich als Autorin mich öffentlich in einem solchen Outfit präsentieren könne und behauptete, dass Verlage und andere potentielle Verhandlungspartner*innen mich nun nicht mehr ernst nehmen würden, weil sie mich und meine Arbeit fortan nur noch mit meinen Brüsten assoziieren würden.

Hm.

1. Ich mag meine Brüste. Sie gehören zu den Teilen meines Körpers, die ich richtig gelungen finde. Weshalb also sollte ich sie nicht auch mal zur Geltung bringen?

2. Vielleicht habe ich mir bei der ganzen Sache ja etwas gedacht. 

3. Was hat mein Äußeres eigentlich mit meinen Texten zu tun? Wird die Qualität meiner Bücher tatsächlich danach beurteilt, wie viel Dekolleté ich öffentlich zeige? Und würde man umgekehrt meinen Werken tiefere Bedeutung beimessen, wenn ich mich künftig nur noch ungeschminkt und im schwarzen Rollkragenpullover vor einem Bücherregal fotografieren ließe?

Ja. Es spielt eine Rolle. Obwohl ich daran glauben möchte, dass ein Werk auch für sich allein existieren und aus eigener Kraft strahlen kann, ganz gleich, wer es erzeugt hat. Aber sogar eine Elena Ferrante, die bewusst anonym bleibt, beeinflusst damit erst recht oder trotzdem wie ihre Bücher wahrgenommen werden, weil das Mysteriöse um ihre eigene Person auf ihre Romane abfärbt. Auch finde ich, dass Hemingway zweifellos ein großartiger Schriftsteller war, aber es läßt sich durchaus darüber streiten, ob er zu ebenso großem Ruhm gelangt wäre, wenn er nicht zudem ein so heißer Feger gewesen wäre. Und die wunderbare Dolly Parton donnert sich absichtlich auf, um überhaupt erst einmal die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ist diese gegeben, sagt Parton, kann sie den Leuten zeigen, was hinter der Perücke und den XXL-Brüsten steckt, und worum es ihr eigentlich geht: Songs mit Herz und Köpfchen nämlich. Vielleicht wäre Michel Houellebecq’s Erfolg der gleiche, wenn er weniger fertig aussähe und kein Alkoholproblem hätte, aber sein Auftreten passt eben auch zu der kaputten Welt, die er in seinen Büchern beschreibt. 

Ein Werk ist immer mit der Person verbunden, die es erschaffen hat, schließlich ist es aus ihr heraus entstanden.  Von außen Betrachtende werden Werk und Schöpfer*in immer miteinander assoziieren.  Und es liegt in der Hand des Kunstschaffenden, welches Image sie/er nach außen hin pflegen möchte.  Rollkragenpullover, Badeanzug oder Anonymität?

Vielleicht alles. Wer sagt, dass man sich für immer auf eine Sache festlegen muss?

Madonna hat sich tausend Mal neu erfunden. Vielleicht trage ich morgen also zur Abwechslung mal den schwarzen Rollkragenpullover. Heute jedoch frage ich mich: Was passt wohl am Besten zu meinem neuesten Roman „Ich traf Gott und sie heißt Miranda“?

Es mag meinen vor Besorgnis erschütterten Bekannten überraschen, aber ich habe mich nicht nur bewusst für den aprikosefarbenen Badeanzug entschieden, sondern in dem knappen Teil tatsächlich auch eine Botschaft verpackt. 

Frau und unzensiert

Seit meiner Kindheit wurde mir von verschiedenen Seiten eingebläut, was sich für ein Mädchen, und später dann für eine Frau, gehört und was nicht. Welche Frau hat sich in ihrem Leben nicht schon damit auseinandergesetzt, wie sie sich kleiden sollte, um unterwegs nicht blöd angesprochen oder gar als Schlampe beschimpft zu werden? Was bedeutet „Schlampe“ überhaupt? Warum gibt es dieses Wort heute noch? 

In den letzten Jahren ist viel passiert und 2021 sollte es eigentlich kein Thema mehr sein, aber ich bin mir nicht ganz sicher: wie viel Freizügigkeit darf sich eine Frau wirklich erlauben? Könnte eine Frau heutzutage etwa offen sagen mit wie vielen Menschen sie in ihrem Leben geschlafen hat, ohne dafür verurteilt zu werden? 

Schwierig. Scheinbar kann sie sich ja nicht einmal in einem Badeanzug zeigen, ohne irgendwo anzuecken.

Vor ein paar Jahren hatte ich einmal mein Glück auf Tinder versucht und den Fehler gemacht, im Profil anzugeben, dass ich keine feste Beziehung suchte. Mir schwebte etwas leichtes, unkompliziertes vor, eine „feel good“-Affäre sozusagen. In den Köpfen der Typen hingegen, die mich kontaktierten, schien sich etwas ganz anderes und ziemlich verruchtes abzuspielen. Als ich dann nämlich den Anfängerfehler machte, nach kurzem, harmlosen Chat meine Handynummer rauszurücken, erhielt ich prompt ungefragt mehrere Großaufnahmen des männlichen Geschlechtsteils, sowohl in bewegten Bildern als auch Stilleben, und stets, wie es schien, in „Höchstform“. Ein Penis rief sogar per Live-Video an, und ich weiß nicht, wie er das fertigbrachte, aber sein Live-Stream lief und ich sah ihn in voller Action, obwohl ich NICHT dranging. Ich musste den Anruf wegdrücken, was allerdings einen Moment dauerte, weil ich so verblüfft war, dass solche Anrufe überhaupt möglich sind, und ich mich zudem regelrecht überwinden musste, das Display meines armen Handys überhaupt anzufassen.

Nicht auszudenken, was wohl passiert wäre, wenn ich in meinem Tinder-Profil zudem angegeben hätte: „Ich finde meine Brüste toll!

Mittlerweile weiß ich, dass viele Freundinnen ähnliches erlebt haben, und dafür mussten sie noch nicht einmal auf Dating-Apps gehen. Die unerwünschten Bilder flattern einfach in ihre Posteingänge auf diversen sozialen Netzwerken herein. Nicht etwa, weil meine Freundinnen verkündet hätten, dass sie nach einer Affäre suchten, oder sich besonders sexy gezeigt hätten, nein, es reicht scheinbar schon einfach nur eine Frau zu sein. 

Für mich waren solche krassen Fotos damals eine Neuheit. Ich schwankte zwischen Ekel und Faszination darüber, dass es tatsächlich noch Neandertaler gibt. Auch als ich vorsichtig wurde und meine Nummer nicht mehr hergab, arteten die Chats trotzdem schnell in derbste, schlecht geschriebene Monologe über die Sex-Fantasien des jeweiligen Kerls aus, die sich bestenfalls vielleicht als Drehbuchvorlage für einen Hardcore Porno geeignet hätten. Von meiner Vorstellung einer leichten Affäre mit respektvollem Umgang war all das jedenfalls Lichtjahre entfernt. 

Mir wurde klar, dass ich als Frau scheinbar nicht bedenkenlos sagen konnte, dass ich nur an einer Affäre interessiert wäre, weil die Männer keine Nuancen sahen, sondern schwarz-weiß dachten: War ich nicht das heilige Mauerblümchen, das sich ziert und nach der großen Liebe suchte, so musste ich in ihren Augen unweigerlich die verruchte, sexgeile „Bitch“ sein. Sie sahen nicht, dass es dazwischen jede Menge Nuancen gibt – zumindest gilt das für die Kerle, mit denen ich im Internet kommuniziert hatte. Natürlich ist das nicht zu verallgemeinern und auch nicht auf die echte Welt zu übertragen, in der es in der Regel zwischen Mann und Frau in einer Affäre eher respektvoll zugeht. Trotzdem frage ich mich: Vielleicht kann eine Frau ihre Sexualität nur scheinbar frei ausleben – nämlich nur, insofern sie der männlichen Fantasie entspricht?  

Meine Romanheldin Miranda hält sich mit solchen Fragen nicht mehr auf. Sie ist längst weiter. Zwar liebt sie bedingungslos, ist verwundbar und sicher nicht perfekt, aber sie tut, was sie will, ist komplexbefreit, und steht voll und ganz zu sich selbst. Ich glaube, Miranda ist die Frau, die ich gerne wäre, und doch bin ich aber oft noch wie die etwas steife und schüchterne Genforscherin Maike, die eigentliche Hauptfigur meines Romans. 

Als mein Ex-Geliebter sich über meine Badeanzug-Story entsetzte, etwa, war ich ganz Maike und habe den Clip sofort gelöscht. Zwar war es nur die Ankündigung für die Lesung, aber trotzdem: warum habe ich mich von ihm abschrecken lassen? Das hat mich einige Tage beschäftigt, bis mir klarwurde, dass sowohl seine Reaktion als auch meine akute Gegenreaktion im Grunde nur bestätigten, woran mir bei meiner „mirandaesken“ Inszenierung überhaupt – und nicht zuletzt auch mit meinem Roman – gelegen war. Daraufhin veröffentlichte ich die Lesung erst recht. Und im Gegensatz zu dem kleinkarierten Ex, reagierten Frauen begeistert. Sie verstanden sofort und ganz genau, worum es hier ging.   

Seit Jahren beschäftigt mich: Was macht eine Frau aus? Welche Freiheiten habe ich als Frau wirklich?

Warum hatte ich in meiner Kindheit das Gefühl, dass Jungs mehr anstellen dürfen und wollte daher lange Zeit lieber ein Junge sein?

An der Schauspielschule habe ich immer Männerrollen favorisiert. In „Die Katze auf dem heißen Blechdach“ interessierte mich die Maggie kein Stück. Den Brick wollte ich spielen.

Auch in meinen bisherigen Büchern entschied ich mich bewusst dafür, Männer zu meinen Romanhelden zu machen. Weil die einfach mehr Freiheiten hatten, als eine Heldin sich je hätte erlauben dürfen. Aus ähnlichen Gründen entwarf die Autorin Virginie Despentes ihren „Vernon Subutex“ als männliche Figur. In einem Interview erklärte sie, dass Vernons Handlungen anders beurteilt worden wären, wenn er eine Frau gewesen wäre. Etwa, wenn er mit Bekannten schläft, bei denen er sporadisch übernachtet: da er ein Mann ist, bleibt dies laut Virginie Despentes ein Detail. Wäre Vernon jedoch eine Frau, dann wäre ein solches Verhalten sofort zu einem zentralen Thema des Buches geworden. Despentes hätte es erklären müssen, was wiederum vom eigentlichen Thema abgelenkt hätte, um das es ihr in „Vernon Subutex“ ging.

Vor gar nicht allzu langer Zeit war es in der Buchbranche nahezu unmöglich anders über Frauen zu schreiben als in dem zuckersüßen „Chick Lit“ Genre. Erst die Frauenbewegungen der vergangenen Jahre und #MeToo haben neue Türen geöffnet.

Bis dahin wäre ein Roman wie „Ich traf Gott und sie heißt Miranda“ nicht möglich gewesen.

Trotzdem gibt es auch heute noch immer eine gewisse Diskrepanz zwischen dem, was eine Frau theoretisch alles tun und sein darf, und inwiefern es dann tatsächlich in der Realität umsetzbar ist.

Dass ich dieses Buch geschrieben habe, kommt also nicht von ungefähr, und wenn ich heute im Badeanzug daraus vorlese, dann hat auch das seine Gründe.

Immer wieder fällt mir auf, dass wir uns oft selbst einschränken oder, schlimmer noch, von anderen bremsen lassen (von einem Bekannten, etwa), weil dieses oder jenes eventuell nicht der Norm entspricht. Wie aber soll ich mich je vollkommen fühlen, wenn ich gewisse Seiten meiner Persönlichkeit ausblende oder unterdrücke? Wie ganz Frau sein können, wenn ich ständig zusehen muss, dass ich meine Weiblichkeit zensiere? Und alles bloß, weil es ungewöhnlich wäre oder sich gar jemand daran stören könnte? Wie sollte bei einem solchen Denken dann je Fortschritt möglich sein? 

Gerade als Frau, aber auch ganz allgemein als Mensch, möchte ich mich von diesen Zwängen befreien und von dem verkopften „Tu dies nicht, tu das nicht“ abwenden.

Der Sprung aus der Dusche hinaus in die Öffentlichkeit war eine Herausforderung für mich – ebenso wie auch jeder Text, den ich veröffentliche, für mich ein Sprung ins Ungewisse ist.  

Die Badeanzug-Lesung ist die Inszenierung meiner Romanheldin Miranda, einer freien, selbstbewussten Frau, die voll zu ihrer Weiblichkeit steht. Dazu gehörte für mich auch, etwas auszuprobieren und mich zu trauen, meine Kreativität voll auszuschöpfen.

Weshalb auch sollte ich mich darin einschränken? Ob ich nun spiele oder schreibe, vorlese oder tanze, es läuft alles auf eines hinaus: ich erzähle Geschichten. Mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln.  

„If I could get their attention long enough, I felt they would see beneath the boobs and find the heart, and that they would see beneath the wig and find the brains. I think one big part of whatever appeal I possess is the fact that I look totally one way and that I am totally another. I look artificial, but I’m not.“

Dolly Parton

Die Reaktion meines Ex-Geliebten zeigt eigentlich nur, wie sehr wir noch kämpfen müssen, bis wir Frauen uns endlich wirklich frei und unbefangen geben können, ohne dass gleich jemand anklopft und dringlichst dazu auffordert, den (Dusch-)Vorhang wieder zuzuziehen (oder im anderen Extrem unerwünschte Fotos schickt). 

Wenn ich damit jedenfalls auch nur einer einzigen Person Mut machen kann, in all ihren Facetten zu schillern und uneingeschränkt sie selbst zu sein, dann ist mir das jede Kritik von anderen Leuten wert. 

Falls Ihr jetzt neugierig auf die kleine Lesung seid, dann schaut sie Euch gerne auf meinem Instagram-Profil an, oder, besser noch: Lest Ich traf Gott und sie heißt Miranda !  

Daddy’s Girl

Seit 14 Jahren lebe ich nun in Paris. Und bis vor kurzem dachte ich genau zu wissen, warum. Doch vor ein paar Tagen spülten meine Gedanken völlig unerwartet eine ferne Erinnerung aus meiner Jugend an die Oberfläche zurück. Es war einer dieser seltenen Momente, in denen alle Filter wegrutschen und man plötzlich die rohe Wahrheit erkennt: mein Vater auf dem belebten Boulevard Haussmann vor den Galeries Lafayette, um uns herum Trubel und lärmender Verkehr, ich muss 12 Jahre alt gewesen sein, es war meine erste Parisreise und ich folgte meinem Vater, als er plötzlich anhielt und zur gegenüberliegenden Seite des Boulevards hinüberblickte, wo eine junge Frau und deren Freundin aus der Menge hervorstachen, lachend und beschwingt auf hohen Absätzen an den schicken Schaufenstern entlang liefen, so hübsch, elegant und voller Lebensfreude. Ich fühlte mich wie in einem Film, der erst beschleunigt und dann in Zeitlupe auf diese eine Frau zoomte, ihr unfassbar schönes Lächeln, die langen Beine, der freche Kurzhaarschnitt, die schicke Sonnenbrille und die sommerliche, runde Korbtasche über ihrer Schulter – ich wollte auch so sein, aber es erschien mir als komplexbeladene und mittellose Teenagerin unerreichbar. Und dann sah sie plötzlich zu uns. Erschrocken und peinlich berührt davon, dass ich sie so angestarrt hatte, drehte ich mich hilfesuchend zu meinem Vater, der mich jedoch gar nicht wahrnahm. Er sah zu ihr. 

Das war der Moment. In jener kurzen Erinnerung zeigte sich mir plötzlich der wahre Grund, weshalb ich nach Paris gezogen war. Nicht meine französischen Wurzeln hatten mich hierher geführt. In Wirklichkeit suche ich seit nunmehr 14 Jahren in der Metropole nach diesem Blick, dem Blick meines Vaters, den er dieser jungen Frau geschenkt hatte. Mir sollte er gelten. Mich sollte mein Vater bewundern. Wie früher. Als ich noch seine Prinzessin und er mein Held war – bevor er zu einem strenggläubigen Muslim wurde. 

Mein Vater war immer schon vieles: überzeugter Marxist und Maoist, leidenschaftlicher Langzeitstudent und vehementer Verfechter des Peace and Love. Aber Religion gehörte definitiv nicht zu seinen Interessen, als er in den 60er Jahren fürs Studium aus dem fernen Irak nach Deutschland zog. Wie alt genau er damals war, weiß niemand, nicht einmal er selbst. Wir wissen nur so viel: im Jahr seiner Geburt war die Ernte wohl recht gut ausgefallen, und dass es an seinem großen Tag in Strömen regnete, doch just in dem Moment als er zur Welt kam, brach die Sonne zwischen den grauen Wolken hervor und strahlte ihm ins Gesicht. Die deutschen Behörden schlussfolgerten daraus, dass dies unumstritten an einem Apriltag gewesen sein musste. Anno…? Mein Vater lächelte zufrieden, wählte sein Wunschdatum aus, und stürzte sich dann kopfüber in die damals aufblühende Hippie-Ära, verliebte sich augenblicklich in das pulsierende Leben des abenteuerlichen Deutschlands – alles neu, fremd und so anders als im Irak -, und vor allem in viele, viele Frauen. Bei der erstbesten Gelegenheit kaufte er sich ein knallrotes Cabriolet und flitzte mit quietschenden Reifen nach Hamburg, nach München, nach Frankfurt und Göttingen, an die Nordsee und bis ins Schwabenländle, um die Fülle deutscher Kultur unter ihren diversen Aspekten und in all ihren Nuancen genauestens zu erkunden… Natürlich geschah das BEVOR er meiner Mutter begegnete. Aber er erzählte mir gerne von seinen wilden Studentenzeiten, in denen er mehrere Liebschaften zugleich und so ziemlich alle Drogen ausprobiert hatte, die der damalige Markt zu bieten hatte. Wohl dosiert versteht sich, und ganz einem väterlichen Verantwortungsbewusstsein entsprechend, ließ er genauere Details zwar aus, aber im Gegensatz zu den anderen Erwachsenen in meiner Jugend, sprach er offen zu mir und gewährte Einblicke in die freie Welt jenseits der magischen 18, was mich und meine Freundinnen als Teenagerinnen natürlich brennend interessierte. 

Ich war seine beste Zuhörerin und er mein bester Freund. Bis er dem Islam verfiel. 

Es mag sonderbar klingen, dass ich ausgerechnet nach dem Blick meines Vaters suche, den er einer fremden Frau zuwarf, weil er sie eindeutig attraktiv fand. Doch als er ein paar Jahre danach zu einem Muslim wurde, der unsere Familie zerstörte, war ich viel jünger als die Frau damals in Paris. In meiner verworrenen Logik wurde dieser Blick seines früheren Ichs zu dem Blick, den ich mir von ihm an mein zukünftiges Ich wünschte. Ich hoffte, wenn ich erst das Alter dieser Frau erreichte und dann so wäre wie sie, wenn ich das schaffte, dass dann auch er wieder werden würde wie damals. 

„Il fil öcküll moos.“ Der Elefant ißt Bananen. Das ist so ziemlich der einzige Satz, den ich noch auf irakisch kann. Seit meinem vierzehnten Lebensjahr will mir ansonsten kein weiteres Wort mehr einfallen, bis auf eben diesen einen Satz. Vielleicht, weil die damit verknüpfte Erinnerung eine der wenigen guten ist, die ich noch mit dieser Sprache verbinde. Ich muss drei Jahre alt gewesen sein, als ich meinem Vater von dem Elefanten und den Bananen erzählte, und zwar bis er darüber lächelnd einschlief. Eigentlich hätte es umgekehrt sein sollen, zumal mein Vater ein begnadeter Geschichtenerzähler war und auch heute noch ist. Bloß haben die Märchen, die er heute erzählt, leider nichts mehr mit den wunderbaren Welten aus tausend und einer Nacht zu tun. Heute verbreitet er lieber Verschwörungstheorien und predigt über den Jüngsten Tag. 

In meiner Kindheit war mein Vater oft wochenlang verreist. Er fuhr zahlreiche Autos auf der irren Strecke von Saarbrücken bis ins ferne Bagdad, um sie dort zu verkaufen. Wenn er zurückkam brachte er jedes Mal Geschenke mit: orientalischen Goldschmuck, sonderbare Süßigkeiten und exotische Früchte. Am besten waren jedoch die Abenteuer, die er von seinen Reisen zu berichten hatte. Einmal hatte er sich in der Wüste verfahren, und einzig sein Feuerzeug rettete ihn. Ein anderes Mal musste er vor dem arabischen Geheimdienst fliehen, weil sie ihn für einen Diamantenschmuggler hielten. Er segelte den Tigris hinab bis nach Basra und den Euphrat wieder hinauf, sah Tote aus den Gräbern Najafs auferstehen und entdeckte in Mossul die kostbarsten antiken Schätze. Oft saß ich stundenlang bei ihm in dem Raucherzimmer, das er sich auf dem Dachboden eingerichtet hatte, um ihm zuzuhören. Hier hing der Charme der allmählich verblassenden 68er-Ära noch in der Luft. An einer der weißen Wände war die riesige schwarze Grafik eines Revolvers gemalt, noch von den Hippies, die vor uns hier gewohnt hatten, wie auch die Fußabdrücke, die sie im Zement des Dachbodens hinterlassen hatten. Es roch nach fernen Reisen, nach Kupfer und Messing, und nach dem Leder alter Autos, die in gleißender Hitze über staubige Straßen und durch die Wüste bretterten, immer dem Locken fremder Klänge und mystischer Tänze hinterjagend. Der dichte Rauch in diesem Zimmer war gefüllt mit den sagenumwobenen Abenteuern meines Vaters. 

Doch ebenso wie ich bis heute rätsele, weshalb unsere Hippie-Vormieter entgegen ihrem pazifistischen Image ausgerechnet einen Revolver an die Wand gemalt hatten, werde ich wohl auch nie begreifen, weshalb mein Vater sich ein paar Jahre später so radikal von seinem früheren Leben abkehren sollte. 

Er war schon immer ein charismatischer Mann gewesen, aber auch eitel. Er stand auf schicke Klamotten und schnelle Autos, studierte Soziologie und Politikwissenschaften, und während der Semesterferien schuftete er in einem Stahlwerk, um sich einen schnittigen Sportwagen leisten zu können. Er war ein Dandy, der gern damit prahlte, dass er oft für Al Pacino gehalten wurde. So gering die Chance auch war, dass der echte Pacino sich tatsächlich mal nach Saarbrücken verirrte, davon wollte mein Vater nichts hören, und noch weniger mochte er es, wenn man ihn mit Dustin Hoffman verwechselte. Schließlich sah der Rainman nicht annähernd so gut aus wie Scarface. 

Aber eigentlich ist mein Vater eher ein Cat Stevens. Beide änderten ihr Leben radikal, indem sie von heute auf morgen Muslime wurden. Im Gegensatz zu Stevens jedoch, der sich bereits 1977 in Yusuf Islam umtaufte, machte mein Vater seine Bekehrung erst in den frühen 90er Jahren durch, parallel zum zweiten Golfkrieg und ausgerechnet dann, als ich mit 14 Jahren mitten in der Pubertät steckte. Das war umso schlimmer, weil er bis dahin sehr bedacht darauf gewesen war, mich als einen Sproß der wilden 70er Jahre zu einer freiheitsliebenden, eigenständigen und unabhängigen Frau zu erziehen, die sich nichts von niemandem bieten lassen sollte. 

Einst war ich sein ganzer Stolz. Plötzlich war ich ihm nichts mehr wert, weil ich eine Frau bin.

Es gibt viele Gründe und mögliche Auslöser, aber keinen Trost. Kurz zuvor war seine Mutter im Irak gestorben. Der Golfkrieg zerstörte seine Geschäftsbeziehungen. Die Trauer, der berufliche Misserfolg, die Arbeitslosigkeit, vielleicht auch die Sehnsucht nach einer Welt, die es so niemals (wieder) geben würde – gute Zutaten für eine Midlife-Krise. Bloß war es keine Krise, sondern eine irreversible Verwandlung. 

Von einem Extrem ins andere. 

Einst vermachte er mir seine umfassende Sammlung an Playboy-Magazinen (von den 60ern bis in die 80er hinein!). Kaum ein Jahr später jagte er mich mit einem Stock durchs Treppenhaus, weil ihm die zerrissenen Jeans, die ich trug, unsittlich erschienen. 

Einst war mein Vater der coole Buddy, der mich verstand und mir alles erlaubte. 

Er war nicht bloß mein Held. Auch meine Freundinnen fanden, dass er der coolste Papa der Welt war. Als wir noch Kinder waren, erzählte er uns nicht nur wunderbar gruselige Märchen aus tausend und einer Nacht, sondern er spielte auch mit uns. Welcher Vater tat das damals schon? Dass es vielleicht daran lag, weil er job- oder eher arbeitslosigkeitsbedingt einfach mehr Zeit hatte als andere Eltern, das war uns Kindern natürlich Schnuppe. Und vielleicht spielte er genau deswegen auch so gern mit uns, weil wir ihn nicht nach seinem beruflichen Status oder Bankkonto beurteilten, und weil er mit uns in eine Parallelwelt abtauchen und somit vor seinen Problemen flüchten konnte. Er enterte unser imaginäres Piratenschiff, reiste mit uns unter stürmischsten Wetterbedingungen bis ans Ende der Welt (in Wirklichkeit die Küche) und suchte mit uns nach verschollenen Schätzen (die von meiner Mutter frisch gebackenen Rosinenschnecken im Ofen). Unsere gesamte Wohnung wurde zum Wunderland. Mittendrin meine arme Mutter, die dem Tohuwabohu fassungslos zusah und fast einen Herzinfarkt erlitt, weil sie um ihre kostbaren Kristallvasen bangte.

Auch als meine Freundinnen und ich den Yellow Brick Road ins Teenager-Alter nahmen, blieb mein Vater ein beliebter Weggefährte. Unterwegs besorgte er sogar einmal einen ausrangierten Spielautomaten. Erst viel später wurde mir klar, dass meine Mutter wenig erfreut darüber gewesen sein musste, als er das Ding voller Stolz heim brachte und in unserer Diele aufstellte. Meine Freundinnen hingegen waren davon mindestens so begeistert wie er. 

Bis er dem Islam verfiel, war mein Vater die erste Bezugsperson für mich. Wenn ich ausgehen wollte, fragte ich immer zuerst ihn. Wenn ich Liebeskummer hatte, tröstete er mich. Wenn ich ein Problem hatte, vermochte er es, mich aufzumuntern. Zwar weiß ich mittlerweile, dass er ein ziemlicher Narzisst ist und bestimmt darauf bedacht war, immer von allen bewundert zu werden. Aber es ändert nichts daran, dass ich eine unvergesslich gute Zeit mit ihm hatte. Er war damals da für mich. Mehr noch: er nahm mich ernst und behandelte mich wie eine erwachsene Person. 

Die Religion hat einen völlig anderen Menschen aus ihm gemacht.  

Lange hielt meine sehr französische Mutter das auch nicht aus. Ihr buntes Make-up, die sexy Miniröcke und der grelle Nagellack waren Schandflecke in der grauen neuen Welt meines Vaters. Es half ihr auch nicht, ihr Entsetzen darüber mit einem Glas Rotwein wegzuspülen. Im Gegenteil, es bescherte ihr bloß blaue Flecken, graublau wie ein plumper Kaftan. Meine Eltern trennten sich als ich 15 war, und es erklärt sich wohl von selbst, dass mein kleiner Bruder und ich bei Maman blieben. Kurze Zeit später heiratete mein Vater eine Muslimin und bekam mit ihr ein Kind. Meine Halbschwester ist jetzt neunzehn Jahre alt. Neulich fragte sie mich scheu unter vier Augen: „Durftest du damals einen Freund haben?“

Als ich 2012 meinen ersten Roman schrieb, muss ich Sehnsucht nach dem Mann gehabt haben, der er früher einmal gewesen war. In AM ENDE IST NOCH LÄNGST NICHT SCHLUSS geht es um vier Alt-68er, die sich in ihrer Jugend geschworen hatten, lieber kollektiv Selbstmord zu begehen als ins Altersheim zu müssen. Ein früherer Freund meines Vaters war gerührt, weil er sich darin wiedererkannte und an seine wilde Zeit erinnert fühlte. Genauso sei es damals gewesen. Mein Vater hingegen verleugnete jegliche Parallelen. Als hätte er sein früheres Leben ausradiert. Überhaupt, so ließ er mich wissen, fand er es nicht gut von mir, so ein Teufelszeug zu schreiben. Doch dann tauchte er wider Erwarten bei meiner Lesung in Saarbrücken auf. Zwar setzte er sich abseits in eine Ecke und machte sich anschließend auch relativ schnell und ohne viele Worte davon. Aber er war da gewesen. 

Eine Freundin, die an dem Abend auch anwesend war, erzählte mir später, dass er während der Lesung mächtig stolz auf mich gewirkt und mir voller Bewunderung zugehört hätte. 

War es das gewesen, wonach ich mich so lange gesehnt hatte? Zu flüchtig war es gewesen. Ich hatte ihn nicht gesehen, den Blick, nach dem ich noch heute in den Straßen von Paris suche. 

Song der Woche: “Message Personnel” (Françoise Hardy)