Nichts genaues weiß man nicht.
Am Montag durfte ich zum ersten mal nach zwei Wochen Quarantäne wieder vor die Tür. Heute ist Mittwoch, und ich möchte nicht mehr raus. Da draußen, im unmittelbaren Umkreis, dem Ein-Kilometer-Radius, den wir in Frankreich maximal um unsere Unterkünfte herum zurücklegen dürfen, in diesem Radius gibt es momentan wenig, das mir zusagt, dafür jedoch vieles, das mich verängstigt.
Ich bin froh, wieder raus zu dürfen, diese Freiheit zu haben. Und ich bin froh, dass ich darf, aber nicht muss. Es gibt zu viele Unklarheiten, Zweifel zur Corona-Situation im Allgemeinen oder zu meiner Lage im Besonderen.
Offiziell darf ich also wieder vor die Tür! Offiziell? Da fängt es ja schon an: Das „offiziell“ behaupte ich jetzt einfach mal, denn die vom Krankenhaus verordneten 14 Tage Quarantäne sind seit Montag tatsächlich verstrichen. Aber niemand rief mich an, weder mein Hausarzt noch die Ärzte aus dem Krankenhaus – die haben sich sowieso seit einer Woche nicht mehr gemeldet. Auch kein Vermerk oder Signal poppte im Kalender der Online-Platform für Corona-Patienten auf, die ich jeden Morgen abrufen muss, um über meinen Gesundheitszustand zu informieren. Im Gegenteil, in meinem Profil wird angezeigt, dass ich noch bis zum 15. April Fragebögen ausfüllen soll. Jeden Tag verlängert es sich sogar um einen weiteren Tag. Einerseits nett, dass der französische Staat wie es scheint, sich um meinen Gesundheitszustand sorgt und ihn auch nun, da ich wieder gesund bin, weiterhin beobachten möchte. Andererseits würde ich gern damit abschließen und als offiziell Genesene aus dem Covidom-Programm entlassen werden. Aber vielleicht haben die Betreiber der Platform noch nicht entscheiden können, wie lange sie die Daten der (potentiellen) Patienten sammeln? Ich gehe davon aus, dass das Programm innerhalb kürzester Zeit auf die Beine gestellt wurde, und so ungewiss wie das Virus wohl auch die Dauer der Datenerfassung sein wird.
Was nun? Die 14 Tage Quarantäne sind vorbei. Sicherheitshalber zähle ich nochmal nach. Und nochmal. 15. Tage. 15 ist auch die Nummer des Rettungsdienstes in Frankreich. Soll ich dort anrufen, um mich zu erkundigen?
Es würde mich nicht wundern, wenn die mir sagen würden: „Was? Sie füllen den Fragebogen noch immer aus??“
Es gibt ja die Leute, die schon für mehrere Monate Essvorräte gebunkert hatten, noch bevor überhaupt die landesweite Quarantäne verhängt worden war. Das sind auch diejenigen, die bereits im besten Restaurant der Stadt reserviert haben werden – bester Tisch, Panoramablick – sobald das Ende der Quarantäne offiziell verkündet wird. Ich gehöre nicht zu diesen Leuten, nein. Bei mir wird es vermutlich eher so laufen, dass die Quarantäne bereits seit einer Woche vorbei sein dürfte, bevor ich es mitbekomme.
Statt den Notruf, wähle ich Maries Nummer und frage: „Gehst du jeden Tag raus?“
„Nein“, sagt Marie. „Nur wenn ich muss. Ist ja momentan nicht wirklich spannend, da draußen.“
„Du fehlst mir“, sage ich.
„Du mir auch“, sagt sie. „Und hör auf zu weinen.“
Sie hat recht. Ich blicke aus dem Fenster. Es scheint wirklich an der Zeit, raus zu kommen – Bordsteine berühren, Gesichter in echt sehen, an die Realität andocken. Um den Anschluß nicht ganz zu verlieren.
Draußen regnet es in Strömen.
Es gehört viel Motivation dazu, Mantel und Schuhe anzuziehen, und das Rausgehen tatsächlich durchzuziehen, die Aufregung, was da draußen sein, was mich erwarten wird und wie ich darauf reagieren werde. Mir wird etwas mulmig. Weil das letzte Mal draußen lange her ist, und weil es Regeln gibt, neue Regeln vielleicht, von denen ich noch nichts mitbekommen habe, und weil alles anders sein könnte als gedacht? Es sind ja nicht bloß Mantel und Schuhe, die ich dafür anziehen muss, nein, ich kann nicht mal eben vor die Tür, um zu sehen, ob mir das Draußen zusagt, so wie man den Finger versuchsweise ins Badewasser taucht, um zu prüfen, ob es angenehm ist – sowas darf man in Frankreich nicht (mehr). Man braucht jedes Mal eine Ausgangsbescheinigung. Spontan die Nase an die frische Lust zu halten, mehrfach kurzfristig ein und ausgehen ist derzeit nicht möglich. Es gehört Organisation dazu, um vor die Tür zu gehen, es muss geplant sein. Also überlege ich mir gut, ob ich wirklich raus will, es gibt genug Momente, in denen ich einen Rückzieher machen könnte. Alleine das Timing: wann bin ich wirklich komplett angezogen, habe ich alles dabei? Kann ich endlich los?
Pünktlichkeit, Planung – das gehört nicht gerade zu meinen Stärken. Immerhin kann man die Bescheinigung, die ich letztes Mal noch mangels eines funktionstüchtigen Druckers abschreiben musste, seit Neuestem auf dem Smartphone ausfüllen. Es wird dann ein QR-Code generiert und die genaue Uhrzeit festgehalten, wann man das Haus verläßt. Von da an läuft der Countdown für eine Stunde.
Aber: der Mundschutz! Den muss ich doch noch basteln! Zwar hat mir mein Hausarzt ein Rezept für Masken ausgestellt, aber in den Apotheken gibt es keine. Also bastel ich mir selbst eine Maske. Das ist auch mehr als verwirrend: niemand weiß genau, wann man nicht mehr ansteckend ist. Und niemand scheint zu wissen, ob und wie lange man nach einer Covid-Erkrankung immun gegen das Virus ist. Und überhaupt: bis heute wurde ich nicht getestet! Was denn nun? Gefährde ich oder gefährden die anderen? Oder gefährden wir uns alle?
Ein einziges Durcheinander. Nichts genaues weiß man nicht. Vielleicht sollte ich zu Hause bleiben. Einfach nie wieder vor die Tür gehen. Nur noch mit Tigrou und Tutu (meinen Kuscheltieren) vor der Glotze hängen und meiner neuen Leidenschaft für japanische Zeichentrickfilme von Miyazaki nachgehen.
Schließlich raffe ich mich auf: Ein Mal um den Block spazieren und Milch kaufen. Ohne mit jemandem zu reden. Mit Maske. Die ich aus einem mit Zewa gefütterten Seidentuch falte.
Ich ersticke fast daran, der Stoff ist viel zu dicht, zu fest, keine Luft kommt hindurch – es wird ein seeehr kurzer Spaziergang werden.
Das Highlight des Ausflugs findet ohnehin gleich zu Beginn im Hausflur statt: auf den Briefkästen steht der kleine Geist des japanischen Zeichentrickfilms „Spirited Away“, thront dort als kleine Spielzeugfigur, wie ein Schutzengel für das Haus. Ich habe Mühe, es zu glauben und filme es. Den kleinen Geist kannte ich bis vorgestern nämlich nicht – da hatte ich den Film zum ersten Mal gesehen. Die junge Nachbarin aus dem Erdgeschoß kommt dazu und als sie sieht, dass ich filme, sagt sie: „Lustig, nicht? Er ist seit ein paar Tagen hier.“
Das letzte Mal hatte ich sie vor drei Monaten um vier Uhr früh gesehen: ganz uncool hatte ich bei ihr geklingelt, um sie zu bitten, die Musik leiser zu drehen – sie feierte da ihre Einweihungsparty. Ich war nicht stolz drauf, fühlte mich wie eine alte Spießerin und dann wiederum nicht, denn ich wollte einfach schlafen. Gut möglich, dass sie mich jetzt wegen der Maske nicht erkennt. Sie sieht blaß aus, und ihr Lächeln wirkt müde, etwas traurig. Und ich wünschte, wir lebten wieder in einer Zeit, in der unsere einzigen Sorgen lärmende Partys oder spießige Nachbarn sind. Sie lebt in einem winzigen Zimmer mit Blick auf die Mülltonnen. Dort verbringt sie ihre Quarantäne. Mach‘ Krach, Mädchen, lass es krachen, denke ich.
Zum Reden ist keine Zeit. Wir lassen den kleinen, japanischen Geist hinter uns, die Nachbarin ist in Eile, sie treibt mich den schmalen Flur hinunter, wir müssen einen Meter Abstand halten, und mir fällt das Atmen schwer – auf der Straße trennen sich unsere Wege.
Der Regen sorgt für leere Straßen, prallt mir die veränderte Welt mit voller Wucht entgegen – alles steht still, alles versteckt sich vor dem unsichtbaren Feind, der hier draußen lauert. Vielleicht aber ist der unsichtbare Feind in mir? Bin ich noch ansteckend? Mir wird schwindelig.



Ich gehe zur Kathedrale von Notre Dame. Dort, wo sich sonst Touristen tummeln, lachende Stimmen in verschiedensten Sprachen die Luft erfüllen und Fotoapparate klicken, herrscht jetzt geisterhafte Stille. Bloß ab und zu rauscht ein Polizeiwagen vorbei. Ansonsten begegne ich niemandem. In den Supermarkt gehe ich nicht mehr. Zu wenig Sauerstoff, die Maske schnürt mir die Luft ab, vielleicht auch ist mir nach dem tristen Spaziergang die Lust vergangen. Ich will niemanden anstecken und nicht angesteckt werden, denke ich, als ich in den Hausflur zurückkehre. Der kleine Geist steht noch auf den Briefkästen. Wer hat ihn hier abgestellt? Für wen? Warum? Um uns alle zu beschützen?
Gestern war ich dann im Bioshop, um einzukaufen. Dieses Mal hatte ich mir eine richtig gute Maske gebastelt. Und ich konnte mit den Verkäufern smalltalken. Auch sie trugen Mundschutz und sogar weiße Schutzanzüge und Chirurgenhandschuhe, und um die Kasse haben sie einen Glaskasten gebaut. Aber viele Leute standen vor dem Laden Schlange. Ich habe in der Eile die Hälfte der Sachen einzukaufen vergessen. Aufgeregt war ich und habe geschwitzt – 23 Grad warm war es, da sind Maske und meine Wollhandschuhe nicht sehr praktisch. Auf dem Heimweg dann, auf dem Gehsteig gegenüber, hustete eine Frau ungeniert laut und mit weit geöffnetem Mund.
Draußen? Sicher fühle ich mich dort nicht.
Und der kleine, japanische Geist ist aus dem Hausflur verschwunden.
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