Corontine – Tag 12

Tag 12? Keine Ahnung!

„Covidom“ nennt sich die Online-Betreuungsplattform für Covid-19-Patienten in Frankreich. Ich komme nicht durch, kann den Fragebogen, den ich täglich ausfüllen soll erst nach mehrmaligen Anläufen aufrufen – Der Server ist heute überlastet, und das ist neu. Mittlerweile so viele neue Patienten? Also will ich es später nochmal versuchen und in der Zwischenzeit online Nahrungsmittel kaufen. Zwar haben mir Freunde angeboten, für mich einzukaufen. Aber ich fühle mich schlecht bei dem Gedanken, tue mich von jeher schwer damit, Hilfe anzunehmen oder gar darum zu bitten. Ich möchte niemandem eine Last sein. Unabhängig möchte ich sein und sehe also jeden Tag bei Carrefour, Leclerc und Monoprix nach, um das alleine zu schaffen, aber – tja. Ich denke, heute ist der Moment, zu kapitulieren und die Hilfe meiner lieben Freunde anzunehmen. Die Portale der Supermärkte sind nämlich überlastet, seit Tagen schon, bieten Lieferservice mittlerweile erst ab 28. April an, oder man kann die Einkäufe in einer Filiale abholen. Aber letzteres darf ich als Coronavirus-Patientin ja nicht.

Ah, ah, ah. Habe ich wirklich das Coronavirus? Klar, die Schmerzen und Symptome sind eindeutig, mehrere Ärzte vermuten so, aber es wurde kein Abstrich, kein Test gemacht. Es bleibt ein kleiner Zweifel. Andererseits wurde heute auf dem nationalen Radiosender France-info berichtet, dass ein 16-jähriges Mädchen, das an Covid-19 gestorben ist, erst beim dritten (!) Test positiv war. Nicht mal auf Tests ist also noch Verlass? Während ich das schreibe, beginnt sich alles zu drehen. Nichts ist sicher, alles ungewiss, und wir müssen lernen, damit klarzukommen, ohne Anhaltspunkte, Abstriche machen in unserem Alltag, unserem Leben, den Ausnahmezustand testen, aber es bleibt ungewiss, ob sich das positiv oder negativ auf uns auswirkt.

Gestern hatte ich wider Erwarten Ausgang!

Sonne, blauer Himmel, ein Hauch Frühlingsstimmung hinter Sonnenbrille, Mundschutz und verdunkelten Auto-Fenstern. 

Mein Arzt hatte einen Termin klar gemacht, um eine CT meiner Lungen machen zu lassen. Als er mir das grüne Licht für den Termin gab, musste ich augenblicklich mit Maske und Handschuhen in ein „Kapten“ (das Pariser „Uber“) steigen und zum betreffenden Labor fahren. Dort wurde ich ohne Umwege sofort zur CT geführt, gescannt und erhielt gleich danach schon die Ergebnisse. Wie neulich in der Notaufnahme, begegnete ich auch hier kaum Menschen. Der Wartesaal war leer. Es gab nur den Mann am Empfang, die Sekretärin im Wartezimmer, den Laborassistenten, der die CT durchführte und dann die Ärztin, die extra ins Labor kam, um die Daten zu analysieren. Manchmal frage ich mich, was die Quarantäne – vor allem der Umstand, so wenig Menschen zu begegnen – für Auswirkungen auf die Leute haben wird. Zumal ich mich momentan wie eine Aussätzige fühle, potentiell ansteckend, gefährlich – kommt mir nicht zu nahe. Die Menschen, denen ich begegne tragen wie ich alle Mundschutz, alle sehen gleich aus, ob sie lächeln, sieht man nicht. Es ist schräg und befremdend, weil wir ja sonst nie so rumlaufen hier in Paris, in Frankreich, in Europa. 

Jeden Tag telefoniere ich mit Freunden und Familie, nie habe ich so viel Zeit am Telefon verbracht, aber es ist wichtig, denn sonst – das hält doch kein Mensch aus, so lange alleine. 

Während ich auf die CT-Ergebnisse warte, versuche ich zu lesen, aber es geht nicht, obwohl es ein leichter Roman ist, ich kann mich nicht konzentrieren auf die fröhlichen Zeilen über Hemingway im bewegten Party-Paris der goldenen 20er, mein Herz rast, ich fürchte mich so sehr vor den Ergebnissen, und dann steht da absurderweise im Text, in diesem Roman, dass Hemingway auf seiner „Corona“ (!) tippt…- ich überlege kurzerhand einfach abzuhauen. Wie im Film „Brazil“: ich kapere ein Taxi, steige an der Stadtgrenze aus, trampe dann auf der Ladefläche eines Gemüselasters weiter bis an die Küste runter – vielleicht ist die Welt dort noch in Ordnung? 

Die Ärztin kommt mit den Bildern der CT auf mich zu: „Ihre Lungen sind in Ordnung, keine Anomalie.“ Was..? Ich bin erleichtert! Dann, sofort: schlechtes Gewissen! Die Ärztin ist extra hier angetanzt, um meinen Brustkorb unter die Lupe zu nehmen. Aber sie wirkt nicht genervt, im Gegenteil. Sie erklärt mir, dass meine Schmerzen Folgen des Hustens sein können, oder dass ich mir die Muskeln gezerrt habe aus Angst und Anspannung. 

Ich frage hoffnungsvoll: „Dann habe ich gar kein Corona?“ 

Doch, sagt sie, das Virus kann ich trotzdem haben. Die CT bestätigt bloß, dass es nicht in den Lungen ist, aber in meinem Körper kann es eben trotzdem sein. 

Ich will mich also auf das Positive konzentrieren: Meine Lungen sind gesund! Gerne hätte ich darauf eine geraucht. (Haha. Aber ich rauche ja nicht mehr.) Ich fühle mich etwas erleichtert, aber die Schmerzen im Brustkorb sind noch da. Und die Panikanfälle nachts, wenn ich schweißgebadet nach Luft ringend aufwache, die Momente, in den ich glaube zu ersticken. Ich kenne mich so nicht, mein Körper macht seltsame Dinge. Ob das Virus nun in mir ist oder nicht, die Ursache meines derzeitigen Leidens ist zweifellos Covid-19 – die Angst, die es schürt, die Ohnmacht, die Quarantäne, die es einfordert und damit die Einsamkeit, die es schafft.

Sonnendurchflutete Boulevards ziehen an mir vorbei, einige Jogger, die um den Jardin de Luxembourg laufen, dessen Tore mit schweren Eisenketten verschlossen sind. Aber, hey, da draußen sind Menschen unterwegs. Laut Taxi-Fahrer mehr als gestern, weil heute weniger Polizisten patrouillieren. Der Fahrer erklärt das so: die Leute gehen einkaufen und wenn sie sehen, dass niemand kontrolliert, dann ziehen sie anschließend einfach weiter, spazieren länger als eigentlich gestattet. Seit ein paar Tagen wurden die Ausgangsbedingungen in Frankreich nämlich verschärft. Man darf jetzt pro Tag nur noch maximal eine Stunde vor die Tür. Auf der Ausgehbescheinigung muss man die Uhrzeit notieren, wann man das Haus verlassen hat (Und Coronavirus-Patienten dürfen ja sowieso überhaupt nicht raus, außer für eine ärztliche Untersuchung). 

Wie viele Leute jetzt da draußen Sport machen, spazieren – Es erscheint mir surreal, mir, die ich seit über 10 Tagen als einzigen Ausblick den Innenhof meines Wohnhauses habe und dann einen leeren Krankenhaus-Flügel oder heute das stille Labor. Mein Bild von „draußen“ ist verzerrt, geformt von den Bildern der TV-Nachrichten, den Reportagen im Radio, den Berichten in den Zeitungen: totenstille Geister-Großstädte und tobende Intensiv-Stationen. 

Umso mehr erscheint mir die Fahrt im Taxi wie ein Traum. Vor der Haustüre zögere ich, das schöne Wetter zu nutzen und einmal um den Block zu gehen? Nein. Zu unsicher, in jeder Hinsicht, ich will niemanden anstecken. Gleich nachdem ich die Tür hinter mir schließe, werfe ich meine Kleider sofort in die Waschmaschine und springe unter die Dusche – die Aktion ist dem winzigen Zweifel geschuldet, vielleicht doch kein Corona zu haben und somit zu vermeiden, mich dann jetzt anzustecken. Kompliziert, das alles. Und vielleicht wird mich die Corona-Quarantäne total neurotisch machen – ich werde die schräge Tante, die immer mit Sonnenbrille und Handschuhen rumläuft und in ihrer Handtasche vielleicht Stofftiere dabei hat, mit denen sie spricht, wer weiß. Aber sicher ist sicher. 

Um 20 Uhr höre ich die Leute aus der Ferne für das Pflegepersonal und die Verkäufer klatschen und jubeln – das machen in Frankreich seit der Quarantäne alle jeden Abend am offenen Fenster oder vom Balkon aus. Aber in meiner skurrilen Solo-Quarantäne, weiß der Geier warum, ist in meinem Innenhof selbst dies eine einsame Angelegenheit, der mickrige Widerhall meines Klatschens – ich bin die Einzige, die hier um 20 Uhr am offenen Fenster steht. Es ist mir fast peinlich, vor allem, als die Perserkatze von gegenüber skeptisch rüber glotzt. Und dann wieder nicht. Ich klatsche laut und voller Elan: für die vielen Menschen, die mir in den letzten Tagen beigestanden haben und mir geholfen haben. 

Liebe Grüße aus meinem Pariser Turm!

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